demografie
Hohe Sterblichkeit macht der Wirtschaft Sorgen
Russland schrumpft. Trotz Ressourcenreichtums und des vorläufig hohen Ölpreises befürchtet der Kreml einen strategischen Bedeutungsverlust für Russland in der Region, zumal angesichts des wachsenden chinesischen Bevölkerungs- und Wirtschaftspotenzials. Die Bevölkerung wird bis 2050 von 142 Millionen auf 100 Millionen Menschen zurückgehen. Dafür werden zumeist die geringe Geburtenrate, die zunehmende Mortalitätsrate und der schlechte Gesundheitszustand verantwortlich gemacht.
Die schwachen Geburtsjahrgänge in den Jahren des Umbruchs nach 1991 werden in Russland und anderen postsowjetischen Staaten in absehbarer Zeit für weiter sinkende Geburtenzahlen sorgen. Der russische demografische Sonderweg im Vergleich zu anderen europäischen und außereuropäischen Staaten ist vor allem ein Ergebnis der hohen Sterberate. Gegenwärtig liegt die Lebenserwartung in Russland bei Männern bei 58,4 Jahren und bei Frauen bei 71,9 Jahren. Vor allem die Sterberate für Männer im arbeitsfähigen Alter ist auf einen dramatischen Tiefstand gefallen.
Zu den Ursachen der demografischen Krise gehört das Fehlen eines funktionsfähigen Gesundheitssystems. Die Wandlungsprozesse der 1990er-Jahre bewirkten eine weitere soziale Differenzierung der Gesellschaft und eine Verarmung großer Bevölkerungsteile, für die Gesundheit nicht mehr bezahlbar war. Die schlechte Gesundheitsversorgung und der übermäßige Alkoholkonsum machen die Menschen anfällig für Folgekrankheiten und erfassen dabei längst nicht nur die Erwachsenen. Fast die Hälfte (45 Prozent) der in Russland geborenen Kinder kommt mit Herz-Kreislauf-Schädigungen oder Immunschwächen wie Aids oder Hepatitis zur Welt. 2006 waren UN-Schätzungen zufolge in Russland bis zu 1,6 Millionen Menschen mit dem HI-Virus infiziert; offiziell waren nur 369.187 Fälle registriert. Bis zu acht Millionen Menschen könnten sich bei unveränderten Bedingungen bis 2010 infizieren; daraus erwachsen dramatische Folgen für das Gesundheitssystem und die Staatskasse.
Bevölkerungsschwund kann destabilisierende Wirkung für die Staatlichkeit haben. Die demografische Sicherheit ist auch dann gefährdet, wenn Abwanderung die Wirtschaftskraft beeinträchtigt. So werden der russischen Wirtschaft bis zum Jahr 2025 zwischen 13 und 19 Millionen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.
Russische und ausländische Unternehmen klagen über zahllose krankheits- oder alkoholbedingte Fehltage und generell über fehlende Arbeits- und Fachkräfte. Der demografische Negativtrend trifft die Wirtschaft jedoch zusätzlich: Mangelnder Nachwuchs bedeutet eine geringere Innovations- kraft und Wettbewerbsfähigkeit; dies gilt insbesondere dann, wenn keine ausreichende Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte stimuliert werden kann.
Auch die Zahl der Wehrfähigen wird sich in den kommenden zehn Jahren deutlich verringern. Das Land wird in 30 Jahren seine Verteidigungsfähigkeit lediglich noch über eine Freiwilligen- oder Berufsarmee sichern können. Russland fehlen Rekruten: Während 2007 noch 277.651 Männer eingezogen werden konnten, werden 2015 nur noch 252.049 Rekruten bereitstehen.
Wladimir Putin hat als Präsident seit 2005 deutlich mehr administrative und materielle Ressourcen für die demografische Sicherheit bereitgestellt. Er sah sich angesichts der alarmierenden Trends gezwungen, Demografie zu einem Thema "nationaler Sicherheit" zu machen. Die "Konzeption der demografischen Politik der Russischen Föderation bis 2025" vom Oktober 2007 ist nach Meinung der führenden Demografen Russlands nicht realistisch.
In der Konzeption, die während des Wahlkampfs zu den Dumawahlen verabschiedet wurde, sucht man vergebens nach Zahlen zur Finanzierung dieser Ziele. Für die so genannten "Nationalen Projekte" in den Bereichen Gesundheit, bezahlbarer Wohnraum, Bildung und Landwirtschaft sollten 2007 bis 2009 jährlich 3,5 Prozent der Haushaltsausgaben aufgewendet werden; 2008 sollen die Ausgaben bei 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen. Noch ist offen, ob die Initiativen auch unter Russlands neuem Präsidenten Medwedew finanziert werden und in eine nachhaltige Politik münden können.
Der Autor arbeitet für das Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.