medienfreiheit
Journalisten werden von der Zensur gegängelt. Viele Verlage kämpfen ums Überleben
Die jungen Journalistikstudenten der Moskauer Staatsuniversität reagieren verlegen, als sie ein Buch von Anna Politkowskaja nennen sollen. Sie haben keines gelesen. Die mutige Journalistin, die über das Leid der Menschen in Tschetschenien berichtete und im Oktober 2006 ermordet wurde, hatte einst an ihrer Fakultät studiert. Ein Idol war sie nur für wenige. "Erst durch ihren Tod hat sie ihre große Bekanntheit erlangt", sagt die 22-jährige Lena. Den Mord an Politkowskaja hat sie wie viele ihrer Mitstudenten fatalistisch hingenommen. Es ist eine angepasste und verfrüht desillusionierte Generation, die in den Journalismus startet.
"Wenn wir zwei Prozent politisch Aktive in Russland zählen, dann wäre das schon gut", sagt Benazir und zeigt als eine der wenigen, dass sie darüber betrübt ist. "Den meisten Menschen geht es darum, zu überleben oder besser zu leben." Ihre Kommilitonin Lena empört sich über die westliche Ungeduld: "Wie konnte man nur erwarten, dass wir binnen 15 Jahren zu tadellosen Demokraten werden?", fragt sie rhetorisch. "Der Wunsch, keine schlechten Nachrichten zu hören, und die 70-jährige Erfahrung, dass kritische Artikel nichts ändern, stecken doch in den Genen." Eine Zukunft als politischer Journalist haben die meisten von ihnen noch vor dem Examen abgeschrieben. "Wir werden eher Public Relations für Firmen machen oder für Kunstgalerien schreiben", sagt Lena pragmatisch.
Das Stimmungsbild aus dem Hörsaal der Moskauer Journalistikfakultät spiegelt die russische Medientristesse: Es steht nicht gut um die Pressefreiheit. 13 Journalisten fanden in der Regierungszeit von Präsident Wladimir Putin wegen ihres Berufes den Tod. Das sind zwar weniger als unter seinem Vorgänger Boris Jelzin, aber sie machen Russland statistisch zum zweitgefährlichsten Land für Journalisten hinter dem Irak.
Die polizeilichen Ermittlungen verlaufen fast immer im Nichts, die Behörden zeigen sich gleichgültig oder hilflos. Für das vergangene Jahr bilanziert die Moskauer Stiftung zur Verteidigung der Glasnost 75 physische Angriffe auf Journalisten und 92 Fälle von konfiszierten Auflagen. Während der Präsidentschaft Putins gab es 46 Änderungen der Mediengesetze - eine liberale war nicht darunter. 40 Visa für ausländische Journalisten wurden verweigert. Die politische Elite des Landes erblickt in Journalisten meist willfährige Informationsüber-bringer. Unabhängige Berichterstatter sind nicht erwünscht. Über Kremljournalisten, die schreiben, was sie gesehen und gehört haben, sagte Putin: "Sie werden geschickt, um herumzuspionieren, und sie belauschen. Das ist schmutzig."
Die staatliche Unterdrückung der Medien ist vor allem eine Folge der Schwäche vieler Fernsehstationen und Verlage. Drei Übel setzen den Medien in Russland besonders zu: Es fehlt oft an der soliden wirtschaftlichen Basis, an professionellen Journalisten und an der Massennachfrage. Das Verständnis von Medien als strategischem "Bisnes" ist in Russland noch unterentwickelt. Viele Redaktionen bekommen kein Geld für neue Computer. Die Druckqualität in der Provinz ist oft schlecht. Der Vertrieb funktioniert umständlich und macht bis zu 60 Prozent des Preises der Ausgabe aus. Da kann eine Zeitung kaum mit Gewinn arbeiten. Die Werbung drängt ins Fernsehen. Häufig fehlt die finanzielle Sicherheit, die es erlaubt, auch stürmische Zeiten ohne Bankrott zu überleben. Die Verleger sind auf Sponsorengelder aus der Wirtschaft oder staatliche Subventionen angewiesen.
Ein Großteil der regionalen und lokalen Zeitungen hängt vom Gouverneur oder den Stadtverwaltungen ab. Sie dienen als lobhudelndes Verlautbarungsorgan. Der Chefredakteur einer kleinen Zeitung in Nowokujbyschewsk weist bei der Frage nach seinen Lesern aus dem Fenster in Richtung Bürgermeisteramt: "Dort sitzt der eine Leser, den ich habe", sagt er. Der Bürgermeister finanziert ihn. Die Subventionen behindern die Entwicklung eines Marktes, da unabhängige Zeitungen nur schwer gegen sie ankom-men. "Die Presse kann kaum ethisch sauber arbeiten", erklärt der Medienexperte an der Höheren Wirtschaftsschule in Moskau, Iosif Dsjaloschinskij. "Etwa 80 Prozent aller veröffentlichten Text sind bezahlte Auftragsarbeiten." So verdirbt sich der Journalismus aus Not den eigenen Ruf.
Nur wenige regionale Verlage können eine Erfolgsgeschichte aufweisen wie AltaPress in Barnaul, das mit mehr als 1.000 Angestellten zu den wichtigen Steuerzahlern der Stadt gehört. Seinen Verlagsneubau samt Druckerei hat AltaPress in Form eines Schiffes errichtet. "Auf freiem Kurs in turbulenter See" lautet der Slogan. Fernsehzeitschriften und Illustrierte finanzieren die kritische Tageszeitung des Verlages. AltaPress war sogar stark genug, um vor Jahren dem Druck des Kremls während dessen Kampagne gegen einen oppositionellen Barnauler Parlamentsabgeordneten standzuhalten.
Den Redaktionen mangelt es an qualifiziertem Nachwuchs. Viele Journalistikfakultäten bilden ihre Studenten gleich zu PR-Fachleuten aus. In den Presseabteilungen können sie drei- bis viermal mehr verdienen als in Redaktionen. "Es sind vor allem Nicht-Journalisten, die in unseren Beruf wechseln, nachdem sie nirgendwo sonst unterkommen konnten", erklärt der Fernsehjournalist Michail Karasjow aus der Provinzstadt Tambow. Die Seiteneinsteiger suchen einen Job zum Geldverdienen. Sie übernehmen willig den Stil des Senders oder der Zeitung und sehen sich eher als Diener denn als Aufklärer. "Das Unglück unserer Journalisten liegt im leidenschaftlichen Wunsch, oben zu gefallen", beschreibt Karasjow die Situation in Tambow. "Aus der Angst, die Macht zu kränken, entspringt die Loyalität."
Das Verhältnis zu den Mächtigen spaltet die Journalisten in zwei oftmals unversöhnliche Lager: "80 Prozent aller Journalisten gaben in einer Umfrage an, dass sie sich von selbst an den Mächtigen ausrichten", erzählt der Medienexperte Dsjaloschinskij. "20 Prozent verstehen sich als oppositionelle Kraft, die immerfort die Macht beißt, egal, was diese tut. Es gibt nur Unterordnung oder harte Konfrontation." Deshalb mangelt es an der korporativen Solidarität unter Journalisten. Jene, die sich als oppositionell verstehen, greifen die Mächtigen oft emotional bis zur Beleidigung und Verleumdung an. "Zwischen 4.000 und 6.000 Anzeigen gegen Journalisten wegen Verleumdung gibt es pro Jahr", sagt Galina Arapowa vom Zentrum zur Verteidigung der Medienrechte. "Viele davon sind leider begründet." Verurteilungen belaufen sich auf Strafen von 1.000 bis 1.500 Euro. Für kleine Redaktionen kann das schon den Todesstoß bedeuten.
Eine unvoreingenommene und ernsthafte Berichterstattung findet nur ein Minderheitenpublikum. "Die russische Leserschaft", urteilt Dsjaloschinskij, "ist träge, apolitisch und unterwürfig." Viele Menschen vor allem in der Provinz können sich Zeitungen gar nicht leisten. Im Dorfladen stellt sich für sie bei einem Monatsbudget von knapp 100 Euro die fast existenzielle Frage: Wurst oder Zeitung? Andere sind im Egoismus der 1990er-Jahre groß geworden und interessieren sich kaum für Politik und Gesellschaft. 1991 lasen 61 Prozent der Russen täglich eine Zeitung. Vor gut einem Jahr waren es noch 24 Prozent. "Meinungsfreiheit und objektive Information gehören heute nicht zum Warenkorb der Russen", sagt der Leiter des Journalistenverbandes, Igor Jakowenko. So fehlt die öffentliche Unterstützung, wenn Redaktionen unter politischen Druck geraten. Das macht sie angreifbar.
Die Staatsgewalt hat die Medien in den vergangenen acht Jahren systematisch attackiert. Zwar gab es auch zuvor unter Präsident Jelzin keine umfassende Pressefreiheit, doch die Medienimperien verschiedener Oligarchen sorgten zumindest für einen Pluralismus der Meinungen.
Jelzins Nachfolger Putin erkannte im Fernsehen das Medium der Macht über die Köpfe: Etwa 85 Prozent der Russen geben an, sich hauptsächlich über die Nachrichten des staatlichen Fernsehkanals zu informieren. Mehrere oppositionelle Stationen mussten unter Putin schließen oder wurden gleichgeschaltet. Heute zeigt das Fernsehen eine ge-schönte Parallelwelt, in der Präsident und Premierminister entschlossen den Übeln des Landes entgegentreten. Jede Kritik ist als Majestätsbeleidigung tabu. Die Opposition findet auf dem Bildschirm so gut wie nicht statt. Das Fernsehen soll die Gesellschaft ruhig stellen.
Die meisten nationalen Zeitungen gerieten während Putins zweiter Amtszeit in den Besitz kremlnaher Unternehmer. Direkte Zensur ist der Kontrolle von oben und der vorauseilenden Vorsicht der Redakteure gewichen. Nur das Internet blieb bisher weitgehend eine Insel des freien politischen Diskurses. Etwa jeder vierte Erwachsene nutzt es, meist allerdings nur für Einkaufstipps und Web-Bekanntschaften. Manche vergleichen die politischen Blogs bereits mit den dissidentischen Küchengesprächen der Sowjetzeit. Pläne zur Zensur des Internets gibt es auch schon. Aber noch bevorzugt der Kreml die soft power, indem er eigene Websiten finanziert und Blogger in seine Dienste stellt, um kritische Kommentare über Putin oder Medwedew in einer Welle von Lobeshymnen zu verdünnen.
Die vergangenen acht Jahre haben gezeigt, dass die Medien ihre Kontrollfunktion kaum mehr ausüben können, wenn alle anderen demokratischen Institute, vom Parla-ment bis zu den Gerichten und der Zivilgesellschaft, entwertet sind. Viel hängt davon ab, ob Unternehmer und die entstehende Mittelklasse verstehen, dass sie eine vielfältige Berichterstattung brauchen.
Medienfachmann Iosif Dsjaloschinskij mag angesichts der staatsmonopolistisch geprägten Wirtschaftspolitik kaum mehr daran glauben: "Der Kampf um die Unabhängigkeit der Medien ist praktisch schon verloren."
Der Autor ist Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit" in Russland.