BORIS GRYSLOW
Der Präsident der Staatsduma sieht den Parlamentarismus in seinem Land eng verbunden mit der Entwicklung der politischen Parteien
Die Staatsduma ist mehr als 100 Jahre alt. Welche Traditionen des frühen Parlamentarismus hat sie übernommen?
Bei allen Unterschieden stehen sowohl die vorrevolutionäre Staatsduma als auch die gegenwärtige für das Prinzip der Volksherrschaft und die Einheit des Staates. Eine Traditionslinie ist sicher auch die besondere Aufmerksamkeit, die wir den sozialen Problemen und der Lebensqualität im Land widmen. Russland hat einen schweren his-torischen Weg hinter sich. Deshalb ist es umso wichtiger, an die demokratischen Ursprünge unseres Landes anzuknüpfen.
Worin unterscheidet sich die heutige Duma von den Legislaturperioden 1999 oder 2003?
Russland hat sich stark verändert. Nicht zuletzt haben unsere Gesetze dazu beigetragen, dass wir einen Wirtschaftsaufschwung erleben. Der Unterschied zwischen den Legislaturperioden liegt vor allem in den Mehrheitsverhältnissen. In der 1999 gewählten Duma, also in der dritten Legislaturperiode, existierte keine absolute Mehrheit einer Partei. Populistische Aussagen dominierten, und es war schwerer, eine stringente Politik zu betreiben. Dabei mussten der Haushalt konsolidiert und die Ausgaben kontrolliert werden. Denn im Zuge der populistischen Gesetze der 1990er-Jahre hatten die Einnahmen immer wieder die Ausgaben überstiegen. In dieser Zeit habe ich als Fraktionsvorsitzender der "Einheit" die parlamentarische Arbeit begonnen. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie kompliziert die Lage war. Wir handelten verantwortungsvoll, obwohl es nicht populär war, und unterstützten den Kurs von Präsident Wladimir Putin. Später gelang es uns, die Anhänger seiner Politik in der Duma und in der Gesellschaft zu vereinigen. Damals bildeten wir in der Duma eine Union der zentristischen Fraktionen, den Vorläufer der Partei Geeintes Russland.
Jetzt ist Wladimir Putin Ihr Parteivorsitzender und Ministerpräsident...
Genau. Wir Mitglieder der Staatsduma haben jetzt eine neue Beziehung zur Exekutive. Denn Wladimir Putin, unser Parteivorsitzender, verfügt über die absolute Mehrheit in der Duma und leitet die Regierung. Damit liegt jetzt mehr Verantwortung auf der Vlast' (die Staatsmacht - Red.). Das erhöht die Qualität der Zusammenarbeit zwischen allen Machtorganen.
Welche Rolle spielt die Duma in einem präsidialen System?
Die Zuständigkeiten der Duma sind in der Verfassung festgelegt. Ihre politische Stellung hängt vor allem davon ab, wer die Parlaments- und die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat. Deshalb gibt es unterschiedliche Etappen: Beispielsweise stand die Mehrheit der Duma 1995 bis 1999 in Opposition zum damaligen Präsidenten. 2003 und 2007 gewann die Partei die Wahl, die die Politik des Präsidenten unterstützte. Auch bei der Präsidentschaftswahl 2008 siegte der Kandidat, dessen Partei über die Mehrheit der Parlamentssitze verfügte.
Stört ein "starker Präsident" die Entwicklung des Parlamentarismus?
Die Verfassung hat die Kompetenzen so aufgeteilt, dass eine vernünftige Balance zwischen den Machtorganen existiert. Das trägt entscheidend zur effektiven Arbeit des Parlaments bei. Noch haben wir die Entwicklung am Ende der Sowjetunion und in den ersten Jahren nach dem Zerfall des Landes nicht vergessen. Damals waren die Zuständigkeitsbereiche der Staatsorgane nicht ausbalanciert. Die Gesetze wurden ohne Vorbereitung verabschiedet, mitunter reichte eine zündende Rede aus. So kam es nicht selten vor, dass sich die Gesetze widersprachen. Diese Entwicklung gipfelte 1993 in einem tragischen Konflikt, für den sowohl die Judikative als auch die Exekutive Verantwortung tragen. Das bestehende System hilft, den Parlamentarismus weiterzuentwickeln. Denn es hat dazugeführt, dass eine starke Regierungspartei und ei-ne parlamentarische Opposition entstehen konnten.
Nimmt die Duma Einfluss auf die Entscheidungen des Präsidenten oder des Ministerpräsidenten in Russland?
Wir verabschieden die Gesetze und reden bei der Personalpolitik mit, schließlich wählt die Duma den Ministerpräsidenten. Außerdem führen wir einen ständigen Dialog mit dem Präsidenten und der Regierung. Besonders intensiv ist er seit Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins. Diese Entwicklung setzen wir unter Präsident Dmitri Medwedew und Ministerpräsident Putin fort. Die parlamentarische Mehrheit hat Möglichkeiten, die Arbeit der Regierung auch über die Parteischiene zu beeinflussen. So finden unsere Parteitagsbeschlüsse Eingang in die Botschaften des Präsidenten an die Föderale Versammlung.
Wird es künftig in Russland ein Zwei-Parteien-System geben?
In absehbarer Zukunft ist das eher unwahrscheinlich. Das Wahlgesetz unterstützt das Mehrparteiensystem und fördert die Gründung starker politischer Parteien. Theoretisch ist es natürlich möglich, dass in der Duma nur zwei Parteien vertreten sind, beispielsweise wenn nur zwei Parteien die Sieben-Prozent-Hürde überspringen. Sollte nur eine Partei mehr als sieben Prozent der Wählerstimmen erhalten, würde die Partei, die diesem Prozentsatz am nächsten käme, dennoch die ihr zustehenden Duma-Sitze bekommen. Schließlich soll es zu keiner Ein-Parteien-Herrschaft kommen. Bislang haben die Wähler in Russland immer mehr als zwei Parteien in die Duma gewählt. Daneben gibt es Parteien, die zwar keine Fraktionen in der Duma haben, aber in regionalen Parlamenten vertreten sind. Dort bringen sie auch Gesetzesinitiativen ein.
Welche Perspektiven hat der Parlamentarismus in Ihrem Land?
Er ist sehr eng verbunden mit der Entwicklung der Parteien. Diese beiden Prozesse sind wichtig, weil sie die Mechanismen der Rechenschaftslegung der Machtorgane gegenüber der Gesellschaft verstärken. Das zeigt sich an den Regierungsbefragungen, die bei uns besonderes Interesse wecken. Das neue Niveau der Zusammenarbeit wird auch dadurch deutlich, dass der Vorsitzende der Partei, die über die parlamentarische Mehrheit verfügt, den Ministerpräsidenten stellt. Das hilft den Abgeordneten, noch aktiver an der Entwicklung des Landes teilzuhaben. Besonders wichtig ist das in der Haushaltspolitik.
Abchasien und Südossetien wollen Russland beitreten. Welche Haltung nimmt die Staatsduma dazu ein?
Es geht nicht um den Beitritt Abchasiens und Südossetiens zu Russland, sondern um die Lösung der Konflikte zwischen Abchasien und Südossetien auf der einen und der georgischen Regierung auf der anderen Seite. Für Russland ist es wichtig, dass in diesen Regionen keine militärischen Konflikte stattfinden. Die Friedensstifter aus Russland haben das Blutvergießen gestoppt. Damals konnten sich die Konfliktparteien auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner einigen: Das Feuer wurde eingestellt. Leider beharrt die georgische Regierung auf ihrer einseitigen, kompromisslosen Haltung. Es ist sehr wichtig, dass sich die internationale Gemeinschaft auch für die Haltung der anderen Konfliktparteien - Abchasien und Südossetien - interessiert. Von daher ist es beispielhaft, dass unsere Vorschläge in Bezug auf die Notwendigkeit einer Gewaltverzichtsvereinbarung in der Region in vielen Punkten mit den Initiativen aus Deutschland übereinstimmen.
Sie sind Vorsitzender des Obersten Rates der Partei Geeintes Russland. Hat Ihre Partei Beziehungen nach Deutschland?
Wir haben in Berlin ein Zentrum für sozial-konservative Politik eröffnet, wo wir einen intensiven Dialog mit den Abgeordneten des Deutschen Bundestags, Vertretern der politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen führen.
Die Fragen stellten Aschot Manutscharjan und Bernadette Schweda. Das Interview wurde vor dem Krieg in Georgien geführt.