Essay
Wie Russen und Deutsche einander sehen. Von der wechselvollen Geschichte der Bilder
In einer Umfrage des Moskauer Levada-Instituts über das Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen fiel den befragten Russen 2007 zuerst der "Große Vaterländische Krieg", also der Zweite Weltkrieg ein. 27 Millionen Bürger der Sowjetunion haben diesen Krieg, der 1941 mit dem deutschen Überfall begonnen hatte, nicht überlebt. In derselben Umfrage wurde aber Deutschland als "enger Freund und Partner" Russlands nur durch die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan und Weißrussland übertroffen. Und als die hervorstechenden Eigenschaften der Deutschen galten "rational", "kultiviert" und "fleißig" - worin sie auch die Selbsteinschätzung der Russen deutlich übertrafen.
Was führt zu einem derart widersprüchlichen Bild? Eigene Erfahrung kann es nur für eine kleine Minderheit sein, die die Bundesrepublik aus eigener Anschauung kennt. Erzählungen der Großeltern, die den Krieg und die deutsche Besatzung erlebt hatten, spielen gewiss eine Rolle. Aber die kollektiven Vorstellungen von "dem" Deutschen sind um einige hundert Jahre älter. Und sie waren das Ergebnis konkreter Erfahrung, lange bevor "Deutschland" mehr als eine blasse geografische Bezeichnung war.
Seit dem 17. Jahrhundert - vor allem seit den forcierten Anstrengungen Zar Peters I., Staat und Gesellschaft nach westeuropäischem Vorbild zu modernisieren - kam eine große Zahl deutscher Spezialisten in das Russische Reich: Handwerker, Ingenieure, Agrarspezialisten, Ärzte, Wissenschaftler, Militärs. Diese zugewanderten Deutschen in St. Petersburg, Moskau und anderen großen Städten verkörperten Fortschritt, Modernisierung und europäische Kultur, all das, was sich die Russen mühselig erarbeiten sollten. Es waren die bewunderten Fähigkeiten der Deutschen, die ihnen Prestige verschafften und sie zum Vorbild machten. Und das sind bis heute die Qualitäten, die mit den Deutschen verbunden werden.
Aber allein Bewunderung für die Fremden war eine Zumutung für das russische Selbstbewusstsein, wenn es sich nicht selbst verleugnen sollte. Die vom Adel geprägte russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts konnte sich immerhin über die Enge und Kleinlichkeit der bürgerlichen Repräsentanten der "deutschen" Qualitäten, über Bier trinkende und Pfeife rauchende deutsche Philister mokieren.
Für die bäuerliche Mehrheit der russischen Bevölkerung waren es eher die Gewissheit des richtigen, des "orthodoxen" christlichen Glaubens und die zahlreichen Sprachfehler der Deutschen, die das Gefühl sozialer Unterlegenheit kompensieren konnten. Solche moderate Kritik konnte das positive Bild der Deutschen nicht im Kern treffen, allerdings bezog es sich in erster Linie auf die Deutschen im eigenen Land. Kontakte mit Deutschland im 19. Jahrhundert, etwa mit Orten akademischer Bildung wie Göttingen oder romantischen Plätze wie Heidelberg haben die bewundernde Sicht weiter verstärkt.
Das änderte sich, als Deutschland 1871 mit der Reichseinigung auch ein Machtfaktor und politischer Konkurrent für Russland wurde und sich gleichzeitig in der russischen Gesellschaft ein neuer Nationalismus herausbildete. Germanophobe Bilder von deutschen Militaristen mit Pickelhaube standen jetzt gegen die alten Deutschenbilder. Im Ersten Weltkrieg beherrschten die Feindbilder dann ohne Einschränkung die Öffentlichkeit. Mit dem Sieg der Bolschewiki in der Oktoberrevolution wurde die blutige Konfrontation der Nationen durch die Konfrontation der Klassen ersetzt. Auf der eigenen Seite standen demnach die proletarischen Klassenbrüder, gleich welcher Nation; die Vertreter des Kapitals waren die Feinde. Im Verhältnis zum kapitalistischen Deutschland wurde in den 1920er-Jahren diese strikte Sichtweise allerdings dadurch relativiert, dass die beiden Verlierer des Ersten Weltkrieges engste Beziehungen in Wirtschaft und Kultur und sogar auf militärischem Sektor pflegten.
Deutsch war die einzige Fremdsprache in der Schule. Selbst nach 1933 blieb das Bild der Deutschen unbeschädigt, waren sie doch in dieser Sicht mehrheitlich unterdrückte Opfer der "Faschisten", die auf ihre Befreiung durch die Klassenbrüder aus dem Osten warteten.
Der deutsche Überfall am 22. Juni 1941 machte sehr schnell deutlich, dass diese unterdrückten Volksmassen engagiert für ihren "Führer" kämpften. Nach wenigen Monaten rief die sowjetische Propaganda nicht mehr zur Befreiung der unterdrückten Deutschen auf, sondern forderte "Töte den Deutschen!"
Diese aggressive Propaganda, die durch unterschiedslosen Hass auf den Feind die drohende Niederlage abwenden wollte, war vor allem auch deshalb erfolgreich, weil die sowjetischen Soldaten auf ihrem Vormarsch nach Westen die Spuren mörderischer deutscher Herrschaft mit eigenen Augen sehen konnten. So waren die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden nicht zuletzt durch die Racheexzesse sowjetischer Soldaten gegen die deutsche Bevölkerung geprägt.
Aber schon vor Kriegsende war die Losung "Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt" ausgegeben worden, unterschied man zwischen Deutschen und "Faschisten", und bald gab es wieder gute sozialistische Deutsche in der DDR und böse deutsche Kapitalisten in der BRD.
Die Bevölkerung hat weniger auf diese Unterschiede geachtet, das alte Bild vom rationalen, fleißigen, aber auch gefühlsarmen Deutschen dominierte wieder die Vorstellungen. So erschien dann auch die deutsche Vereinigung als Bestätigung dieser langfristigen Kontinuität. Der Krieg ist damit nicht vergessen, aber in den populären russischen Vorstellungen sind die "deutschen" Eigenschaften nun einmal die beste Ergänzung der "russischen" Qualitäten.
Der Autor war bis 2006 Leiter des deutsch-russischen Museums Karlshorst.