russlanddeutsche
Sie stecken zwischen zwei Welten. Einige kehren zurück. Moskau lockt sie mit speziellen Angeboten
In drei Tagen hat Walentina Aristow Geburtstag. Sie wird 24. Sie wird weinen. Und ihre Mutter auch. Denn einen Tag darauf wird sich Valentina mit ihrem Mann Jewgeni und ihrem Sohn Kirill ins Flugzeug setzen. Sie fliegen zurück nach Hause, in ihre erste Heimat. Nach Krasnojarsk. Krasnojarsk liegt in Sibirien und ist gute 10.000 Kilometer Luftlinie und zwölfeinhalb Flugstunden von dem Dorf bei Karlsruhe entfernt, wo Walentina und ihre zehnköpfige Familie seit vier Jahren leben. Krasnojarsk, das ist eine Metropole mit einer Million Einwohnern und schlechter Luft.
Valentina und die Familie ihrer Mutter sind Russlanddeutsche. Sie haben einen deutschen Pass, die Großeltern, erzählt sie, waren Deutsche, die Oma kochte Eintopf mit Kraut und Schweinefleisch. Wegen des Zweiten Weltkriegs seien sie in Russland gelandet, die genaue Geschichte kenne sie nicht. Valentina und ihre Familie waren gekommen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Jetzt gehen sie zurück, weil ihr Mann, ein Russe, hier unglücklich war - vom ersten Tag an.
"Sie müssen aufpassen, dass sie keinem Phantom hinterherlaufen", schickt Christoph Bergner (CDU) gleich vorweg. Seit zwei Jahren ist er der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung. Er hat in letzter Zeit mehrere Geschichten über rückkehrende Spätaussiedler in der Zeitung gelesen und im Fernsehen gesehen. "Das grenzt an ein Ärgernis", findet er. "Das sind Einzelfälle. Schließlich leben hier rund 2,3 Millionen Spätaussiedler, so viele Einwohner hat der Freistaat Thüringen." Es sei ein "völlig natürliches Phänomen", sagt er, dass einige wieder zurückgehen. Auch Jakob Fischer, Sprecher der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, sagt, er sei dauernd im Bundesgebiet unterwegs, er kenne keinen einzigen, der zurückgehe. Und Lilli Selski, die für das Bezirksamt Berlin-Reinickendorf Spätaussiedler berät, erklärt: "In den letzten 15 Jahren war es eine einzige Familie."
Sichere Zahlen gibt es tatsächlich nicht. Die Wege von Spätaussiedlern in Deutschland sind schwer nachvollziehbar. "Es sind schließlich deutsche Staatsbürger", sagt Christoph Bergner, "und als solche natürlich frei, ihren Lebensmittelpunkt zu suchen." Das ist ihm wichtig. Rund 100.000, sagt er, seien im vergangenen Jahr aus Deutschland weggegangen - aber eher Richtung Kanada oder Spanien, die wenigsten seien in ihre erste Heimat zurück.
Seit 1990 wanderten etwa zweieinhalb Millionen Spätaussiedler nach Deutschland ein, so die Zahlen vom Nürnberger Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Spätaussiedler, das sind Angehörige von deutschen Minderheiten in ehemaligen Sowjetrepubliken, Polen, Rumänien. Schon seit dem zwölften Jahrhundert leben manche Familien dort. Die gesetzliche "Kriegsfolgenschicksalsvermutung" erlaubte ihnen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, nach Deutschland zu kommen.
"Sie haben eine höhere Erwartungshaltung als die anderen Immigranten", stellt Bettina Beusing fest. Sie berät für die Bottroper Caritas Einwanderer und Spätaussiedler. "Sie sind mit der deutschen Kultur ganz anders verbunden: Sie ist Teil ihrer Familiengeschichte, sie identifizieren sich." Was bei Valentina Aristov der Krauteintopf der Großeltern war, waren bei Lilli Selski Weihnachtslieder, bei anderen kamen Strudel, Kräppel und Griebenschmalz auf den Tisch.
Es sind Gerichte aus längst vergangenen Zeiten. Fast so alt wie das Schwäbisch, das sie sprechen. Rezepte wie Vokabular wurden von Generation zu Generation überliefert, zusammen mit Geschichten aus der alten deutschen Heimat.
Es sind jene Erzählungen, aus denen sich die Deutschen in der sowjetischen Diaspora ihr Bild der Bundesrepublik bastelten. Das Bild eines Landes, das es nicht mehr gibt. "Manche hatten einfach eine falsche Vorstellung von Deutschland", sagt Bettina Beusing. Sie hat festgestellt, dass seit einigen Monaten mehr Familien zu ihr kommen, die darüber nachdenken, nach Kasachstan, Russland oder die Ukraine zurückzuziehen, als noch vor ein paar Jahren. "Bei anderen ist der Ehepartner gestorben, und allein wollen sie nicht in Deutschland bleiben. Und wieder andere, vor allem die Jüngeren, leiden unter der Entfernung zu ihren Familien."
Dass die Rückkehr in die Heimat unter Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion seit zwei Jahren zum immer wiederkehrenden Thema wurde, liegt unter anderem auch an Russland selbst. Die Regierung macht Werbung, in Magazinen, in Zeitungen, im Fernsehen. Russland sucht händeringend nach Immigranten, nach Rückkehrern, die Russisch sprechen. Ihnen fehlen die Arbeitskräfte, der Nachwuchs. "Klar", sagt der Aussiedlerbeauftragte Christoph Bergner. "Dort sieht es in Sachen Demografie problematischer aus als bei uns." Boris Witte (Name geändert) kennt einige, die nach Kaliningrad auswandern wollen. Er ist 43, diplomierter Tierarzt, wie seine Frau. "Meine Großmutter hat nur Deutsch mit mir geredet, als ich klein war", erzählt er. Sein Deutsch ist eine kuriose Mischung aus ausgefeilten Redewendungen und schwerem Akzent. Boris Wittes Familie kommt aus Karlsruhe, das in der Nähe von kleinen Gemeinden liegt, die Kochheim heißen oder Darmstadt. Es sind Dörfer in Kasachstan, einst gegründet von deutschen Minderheiten.
Die Großmutter zog später in die Ukraine, dort wuchs auch Boris Witte auf. Mitte der 1990er-Jahre beschloss die gesamte Großfamilie, nach Deutschland zu ziehen, ab in die alte Heimat. Nach zwei Jahren waren alle da. Sie sind geblieben. Aber Boris und seine russische Frau Irina (Name geändert) tun sich schwer. Hier in Berlin geht seine Frau putzen, er selbst hat schon Alte und Pferde gepflegt, Autos repariert, eine Ausbildung zum Fitnesstrainer hinter sich.
Momentan ist er arbeitslos, sein Meniskus ist gerissen, er geht an Krücken. Ihre Diplome wurden nicht anerkannt. Der Frust wurde groß. Sie beschlossen, wieder zurückzugehen, die beiden Töchter im Gepäck, die eine ein Jahr alt, die andere 13, mitten in der Pubertät.
Tierärzte, die putzen gehen, Einser-Studenten wie Valentina Aristov, die nicht weiter studieren dürfen, keinen Job bekommen: "Das ist eines von zwei zentralen Problemen", sagt Bergner. Seinen Angaben nach sind 75 bis 80 Prozent der Spätaussiedler in Deutschland "deutlich unter ihrer Qualifikation" angestellt, denn formale sowjetische Abschlüsse werden nicht anerkannt, es ist kompliziert, EU-Normen stehen im Weg.
"Da ist viel versäumt worden", sagt er, "ein wunder Punkt." Das andere Problem: Familien mit Heimweh; Kinder, die nicht nachkommen dürfen, weil sie nicht sofort mit eingewandert sind; junge Menschen, die so perfekt Deutsch sprechen, dass sie nicht mehr nachweisen können, ob sie die Sprachkenntnisse in der Familie oder im Germanistikstudium gelernt haben. Und somit nicht auf dem Spätaussiedlerticket einreisen dürfen. "Wir haben es zum Teil mit sehr schwierigen Familientrennungen zu tun", sagt Chistoph Bergner.
Eine Organisation, die Familien in diesen komplizierten Situationen berät, hilft, die deutsche Bürokratie zu durchdringen, ist "Heimatgarten". Einst kümmerte sich der Verein vor allem um Flüchtlinge. Jetzt haben sie in Karlsruhe eine Filiale aufgemacht, die sich auf so genannte rückkehrwillige Spätaussiedler spezialisiert hat. Es ist kein Zufall, dass die Niederlassung ausgerechnet in Baden-Württemberg liegt. Das Bundesland ist das einzige, das Rückkehrer finanziell unterstützt. Nicht alle sind davon begeistert. "Ich habe mich davon distanziert", sagt Christoph Bergner. "Ich halte es für ein falsches Signal - das macht doch den Eindruck, als ob sie nicht erwünscht seien."
Auch die Aristows haben so Geld für ihr Rückflugticket bekommen. Sie haben fast nichts mehr. Momentan wohnen Valentina, Kirill und Jewgeni bei Valentinas Mutter, ihre Sachen sind schon unterwegs nach Sibirien, die Möbel mussten sie verkaufen. Es wäre zu teuer gewesen, sie zu schicken. "Ich lebte hier irgendwo zwischen Himmel und Erde", sagt Valentina Aristov. Sie wird ihre Freunde vermissen, aber zumindest wird sie weiter studieren können. Valentina fährt mit gemischten Gefühlen nach Krasnojarsk. Der kleine Kirill denkt noch immer, es sei nur eine Ferienreise.
Die Wittes hielten es 40 Tage aus in Südrussland. Der versprochene Job löste sich in Luft auf, eine Wohnung gab es auch nicht. "Und wegen jeder Kleinigkeit musste man die Leute schmieren", sagt Boris Witte. Soviel Geld hatten sie nicht. Das ist acht Jahre her. Die große Tochter studiert inzwischen Biologie. "Wenn sie hier nichts kriegt", sagt Boris Witte, "dann geht sie sicher nach Russland." Er hofft es, insgeheim. Dann würde er mitgehen, mit dem Rest der Familie. Und das Auswandern in die Heimat ein zweites Mal versuchen.
Die Autorin schreibt als freie Publizistin für Zeitungen und Magazine. Sie lebt in Berlin.