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Das Individuum hat sich notfalls dem Interesse des Landes unterzuordnen
Die Geiselnahme in einem Moskauer Musical-Theater, der Untergang des Atom-U-Bootes Kursk, die Geiselnahme von Beslan - diese Ereignisse haben das Bild Russlands in den vergangenen Jahren mitgeprägt. Es waren Ausnahmesituationen, die doch eine Gemeinsamkeit aufwiesen: Immer war es der Wert des Lebens und das Recht der Havarierten oder der Geiseln auf Freiheit, Unversehrtheit und Schutz, die gegen das vermeintliche Interesse des russischen Staates abgewogen wurden. Mit Ausnahme der verunglückten Bergung der Kursk, bei der es keine Überlebenden gab und nach der die Verantwortlichen ihr Scheitern schließlich eingestehen mussten, wurden die "Befreiungsaktionen" in Moskau und Beslan von der russischen Führung - Hunderten Todesopfern zum Trotz - als Erfolge gewertet.
In seinem Essay "Menschenrechte in Russland", erklärt der Bürgerrechtler Sergej Kowaljow, die Idee der Menschenrechte werde in Russland - und nicht nur dort - mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass sie in der westlichen Kultur entstanden und ganz von individualistischem Denken geprägt sei. In Russland dagegen sei der Individualismus "für die nationale Wesensart" nie entscheidend gewesen. Die Grundlage von Gesellschaft und Staat bilde kein "Gesellschaftsvertrag", auch kein "System von checks and balances", sondern die Idee der "sobornost", was in etwa die "Übereinstimmung von Freiheit und Gemeinsamkeit" meine. Die Vorstellung individueller Menschenrechte, die im Widerspruch zu den Interessen der Gesellschaft (sprich: des Staates) geraten könnten, seien mit der russischen nationalen Idee nicht vereinbar. Das Interesse des Individuums hat sich mithin dem Interesse des Staates unterzuordnen.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen heißt es: Die Menschenrechte sind durch die Herrschaft des Rechts zu schützen. Unter der von Putin propagierten Diktatur des Gesetzes ergab sich für die Opfer von Beslan dagegen eine andere Ausgangslage. Sie wurden ebenso wie ihre Hinterbliebenen aller Rechte beraubt. Man nahm ihnen nicht nur das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, auf Schutz vor unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, sondern auch ihr Recht darauf, anklagen zu können. Die Geiselnahme in Beslan liegt vier Jahre zurück. Immer wieder tauchten Beweismittel auf, die den offiziellen Bericht der Untersuchungskommission widerlegen. Die Angehörigen der Opfer haben dennoch keine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen können. Beslan steht hier nur stellvertretend für unzählige Menschenrechtsverletzungen in Russland, die unaufgeklärt und ungesühnt bleiben.
Am 31. Dezember vergangenen Jahres waren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg 20.300 Klagen gegen Russland anhängig, so viele wie gegen kein anderes Mitglied des Europarats. Ein Umstand, der den russischen Bürgerrechtler Oleg Panfilow zu der Bemerkung veranlasste, Straßburg sei "der einzige funktionierende Gerichtshof Russlands".
Dem ehemaligen Präsidenten und jetzigen Ministerpräsidenten Russlands, Wladimir Putin, wurde zugute gehalten, er habe die politische Lage des Landes stabilisiert und die unter Boris Jelzin ins Wanken geratene Staatlichkeit restauriert. Für die Behauptung, Russland sei ein sich entwickelnder Rechtsstaat, finden sich indes keine Belege. Die von Putin propagierte "Diktatur des Gesetzes" hat weder der Kriminalität noch der Korruption Einhalt geboten. Noch 2007 meldete die staatseigene "Rossiskaja Gazeta", dass in den vergangenen sechseinhalb Jahren 14 Millionen Verbrechen in Russland unaufgeklärt blieben, darunter 90.000 Morde. Im selben Jahr meldete die staatliche Nachrichtenagentur "Ria Nowosti", dass die Summe dessen, was in Russland an Schmiergeldern gezahlt wurde, den Umfang des gesamten Staatshaushalts erreicht habe. Die restaurierte Staatlichkeit und die Entwicklung des Landes zu einem Rechtsstaat nach europäischem Verständnis sind also nicht ein und dasselbe.
Im Gegenteil, behauptet Kowaljow: "Zweifelsohne stellen bestimmte Züge der russischen Nationaltradition ein Hindernis für die Verankerung der Menschenrechte bei uns dar. Das sind vor allem die Neigung, die Staatsmacht zu sakralisieren, und infantile Erwartungshaltungen. Wir sind es gewohnt, den Staat als eine außerhalb unserer selbst liegende Kraft anzusehen, die wir nach Kinderart vergöttern oder hassen können, ohne für deren Handeln die geringste Verantwortung zu tragen."
Der Staat, dem Putin in den vergangenen acht Jahren zu neuer Geltung verholfen hat, ist ein autoritär gelenkter Staat, geformt nach dem Selbstverständnis eines Mannes, dessen Glaube an Autorität von der überwiegenden Mehrheit seiner Landsleute geteilt wird.
Sein Nachfolger Dmitri Medwedew kündigte an, die Fortentwicklung des russischen Rechts- und Gerichtssystems habe für ihn höchste Priorität. Russland werde aber in dieser Frage einen Weg gehen, der dem Land entspreche. Auch für Kowaljow steht Russland an einer Wegkreuzung: "Entweder finden wir unter Mühen auf den Weg des Rechts und damit Anschluss an die Entwicklung, die der Menschheit die beste Perspektive weist, oder wir versinken erneut im Sumpf der Staatstradition des Reiches von Byzanz und der Goldenen Horde." Die Entscheidung darüber, welcher Weg einzuschlagen ist, obliegt für Kowaljow indes nicht dem Präsidenten, sondern "allein den Bürgern Russlands".
Die Autorin ist Redakteurin der "Berliner Zeitung".