reporterjahre
Daniel Brössler war vier Jahre lang Korrespondent in Moskau. Ein Blick zurück
Die erste Lektion lernte ich in einer Schule, die es nicht mehr gab. Es war ein Sonntag im September, meine Ankunft in Russland lag nur wenige Wochen zurück. Einem journalistischen Reflex folgend führte der erste Weg an diesem Morgen zum Ort der Katastrophe. Am Tag zuvor hatten wir ihn nur aus der Entfernung gesehen, von den Absperrungen aus die beiden gelben Bagger beobachtet und mehr geahnt als gewusst, was dort vorgeht. Nun aber, da alle Leichen geborgen waren, bot sich ein unerwartetes Bild. Die Schule Nummer eins von Beslan und die Trümmer ihrer Turnhalle lagen, nur zwei Tage nach dem Sturm, unbewacht da, auf grausame Weise friedlich.
Soldaten und Milizionäre waren verschwunden, zumindest aus dem Blickfeld. Stumm näherten sich verstörte Männer und Frauen diesem Ort, erst wenige, dann immer mehr. Sie traten zwischen die Grundmauern, stolperten hilflos über den rußbedeckten Boden. Hier und dort lagen noch ein paar Schuhe von Kindern und Frauen. Vor die Trümmer hatte jemand blaue und grüne Schülerrucksäcke übereinander gestapelt. Zwei Tage nach dem Ende der Geiselnahme von Beslan wanderten so Hunderte, vielleicht auch Tausende Einwohner der nordossetischen Stadt durch das Schulgelände, berührten, was sie konnten, als sei das Grauen so zu fassen. Erst nach einer Weile wurde mir klar, was das bedeutete. Ein schwereres Verbrechen hatte Russland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt, doch der Tatort war schlechter abgesichert als bei einem Banküberfall. Von Spurensicherung fehlte hier jede Spur. Die zumeist tschetschenischen und inguschetischen Geiselnehmer waren tot, damit war die Angelegenheit aus Sicht der russischen Behörden erledigt. Die Frage nach der Verantwortung der russischen Sicherheitskräfte für den Tod von fast 400 Menschen würde offen bleiben. Das war meine erste Lektion.
Eine Woche nach der Katastrophe zeigte sich Russlands Präsident Wladimir Putin im Kreise von Ministern und Vertretern aus den Regionen im Fernsehen. "Der Kampf gegen den Terrorismus erfordert gründliche Veränderungen in der gesamten russischen Politik wie auch im nördlichen Kaukasus, wo es zu einer beklagenswerten Situation gekommen ist", sagte er, um grundlegende Veränderungen im Staatsaufbau anzukündigen. Die Direktwahl der Gouverneure würde abgeschafft werden, fortan sollten sie vom Präsidenten bestimmt werden. Auch für die Duma, das Abgeordnetenhaus, kündigte Putin weitreichende Veränderungen durch die Einführung eines reinen Verhältniswahlrechts an. Die Direktwahl der Hälfte der Abgeordneten hatte bislang einigen unabhängigen Geistern den Weg ins Parlament geebnet, damit sollte Schluss sein. Was all dies mit dem Terror zu tun hätte, war eine Frage, die nur vereinzelt gestellt wurde.
Einer der wenigen, die die Stille durchbrachen, war ein Mann namens Wladimir Ryschkow - einer der unabhängigen Duma-Abgeordneten, die es künftig nicht mehr geben sollte. Ich traf mich mit Ryschkow im Zen-Cafe, einem Lokal unweit des Parlaments. Ausländische Journalisten bat Ryschkow fast immer hierher, so gut wie nie in die Duma, die ihm vorkam wie der Oberste Sowjet. "Putin hat innerhalb von fünf Jahren ein autoritäres System geschaffen", sagte Ryschkow. Entstanden sei ein "Staatskapitalismus, in dem an der Spitze der staatlichen Unternehmen seine engen Freunde stehen. Die Freunde Putins kontrollieren mehr als die Hälfte der russischen Wirtschaft". Immerhin, so dachte ich damals, können sich Menschen wir Wladimir Ryschkow noch offen äußern und politisch betätigen. Was dies betrifft, so sollte ich meine Lektion später lernen, als im März 2007 Ryschkows Republikanische Partei ihre Zulassung verlor.
Ende Oktober des Jahres 2004 verbrachte ich einen Tag im Saal 56 des Bezirksgerichts in der Moskauer Kalantschewskaja-Straße. Es herrschte tiefe Müdigkeit. Von ihren Ledersesseln aus blickten drei junge Richterinnen in den Saal, in dem sich an diesem Tag nur acht Zuschauer eingefunden hatten. Ein Zeuge wurde befragt, es ging um den Kauf einer Düngemittelfabrik anno 1994. Ein blasser Staatsanwalt nuschelte Fragen herunter, die er in den Tiefen seines Laptops fand. Der Jurist mit Scheitelfrisur und hellblauer Uniform sah nicht auf dabei, als fürchte er, im Gerichtssaal Verstörendes zu erblicken. Dabei war alles wie immer: Russlands reichster Häftling, der Öl-Milliardär Michail Chodorkowski, saß zusammen mit Platon Lebedew auf der Bank im kleinen Käfig an der Türseite des Gerichts. Gelegentlich wagten die Anwälte einen Einwurf, verwiesen vergeblich auf Dokumente, die das Gericht nicht zur Kenntnis nehmen wollte.
Auf diese Weise schlich das Verfahren in öder Routine einem Schuldspruch entgegen, der schließlich acht Jahre Gefängnis lautete. Am Rande des Prozesses bekamen es deutsche Journalisten immer wieder mit einem wütenden Kanadier namens Robert Amsterdam zu tun. Er war Chodorkowskis internationaler Anwalt, agierte aber eher als sein westlicher Öffentlichkeitsarbeiter. "Mir fehlen die Worte", polterte er, um sich dann wortreich über Kanzler Gerhard Schröder zu erregen, den er der Komplizenschaft mit Putin und somit der Mitschuld am Schicksal seines Mandanten zieh. Amsterdam sparte nicht mit dunklen Andeutungen. Die Freundschaft zum Kremlchef gereiche dem Kanzler nicht zum Schaden. Als später der Radiosender "Echo Moskwy" das Gerücht verbreitete, Schröder trete nach seiner Amtszeit einen Posten bei der von Gasprom kontrollierten Gesellschaft für die Ostsee-Pipeline an, schien die Meldung mir zunächst zu unwahrscheinlich, um ihr weiter Beachtung zu schenken. Auch dies war eine Lektion, die es zu lernen galt.
Vom Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja erfuhr ich während einer Korrespondententagung in München. Ich musste an eine mysteriöse Geschichte denken, die zwei Jahre zurücklag. Politkowskaja hatte nach Beslan reisen wollen, um über die Geiselnahme zu berichten. Während des Fluges erkrankte sie. Die Version, sie sei vergiftet worden, war mir damals abenteuerlich erschienen. Dass schwer zu Fassendes nicht unmöglich sein musste, war eine Erkenntnis, der ich mich über die Jahre in Russland immer weniger verschließen konnte.
Der Zufall wollte es, dass Präsident Wladimir Putin der "Süddeutschen Zeitung" wenige Tage nach dem Mord an Politkowskaja ein schon länger vereinbartes Interview gab. Zusammen mit SZ-Chefredakteur Hans Werner Kilz wurde ich am Abend die langen Korridore des Kreml entlang geführt. Zwei Stunden warteten wir in einem Vorzimmer der Macht, dann ließ der Präsident bitten. "Berührt Sie der Tod einer Ihrer schärfsten Kritikerinnen?", lautete unsere zweite Frage. "Die Ermordung eines Menschen ist ein sehr schweres Verbrechen - sowohl vor der Gesellschaft als auch vor Gott", lautete die eher allgemeine Antwort Putins. Tatsächlich sei Politkowskaja eine Kritikerin der Machtverhältnisse in Russland gewesen. "Ihr politischer Einfluss im Lande war aber nicht sehr groß", fuhr der Präsident fort. "Sie war eher bekannt in Menschenrechtskreisen und westlichen Massenmedien." So schade ihr Tod der russischen und insbesondere auch der tschetschenischen Führung erheblich mehr, als es ein Zeitungsartikel vermöge. "Dieses schreckliche Verbrechen fügt Russland großen moralischen und politischen Schaden zu", erklärte Putin.
Diese Logik galt später auch nach dem Strahlentod des Putin-Kritikers Alexander Litwinenko in London. Der russische Geheimdienst konnte demnach gar nicht hinter dem Anschlag stecken, weil der Tod des Ex-Agenten Russland doch nur schade.
Am 3. März 2008 verließ ich Moskau, einen Tag nach der Wahl Dmitri Medwedews zum neuen russischen Präsidenten. Kaltschnäuzigkeit, Zynismus und Doppelzüngigkeit werden mir als besondere Kennzeichen der Herrschaft seines Vorgängers in Erinnerung bleiben. Ebenso wie der beleidigte Vorwurf, vom Westen zu Unrecht beschuldigt zu werden. Im Juni absolvierte Medwedew seinen Antrittsbesuch in Berlin. Als bei einer Pressekonferenz mit Angela Merkel im Kanzleramt nach einer Begnadigung Chodorkowskis gefragt wurde, antwortete Medwedew kühl, über eine vorzeitige Haftentlassung oder eine Begnadigung werde nach Recht und Gesetz entschieden. "Das ist keine Entscheidung, die in zwischenstaatlichen Gesprächen oder politisch getroffen wird", sagte er. Das klang so einleuchtend. So sehr, man hätte fast vergessen können, dass schon die Verurteilung Chodorkowskis politisch entschieden worden war. Gelernt ist eben gelernt.
Der Autor war von 2004 bis 2008 Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Moskau.