soziales
Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer
Nicht einmal 20 Jahre ist es her, dass die Sowjetunion und mit ihr das gesellschaftliche Leitbild der sozialen Gleichheit zu Grabe getragen wurden. Wer heute durch die Moskauer Innenstadt spaziert, mag das kaum glauben: noble Restaurants, luxuriöse Boutiquen, protzige Autos - in der Metropole, in der heute mehr Dollarmilliardäre leben als in New York, zeigt die russische Oberschicht protzig ihren Reichtum.
Auf den Großteil der Moskauer, der in den tristen Hochhaussiedlungen der Außenbezirke der Hauptstadt wohnt, muss diese Zurschaustellung wie Hohn wirken. Zwar hat der allgemeine Wohlstand in Russland in den vergangenen Jahren zugenommen. Doch zugleich geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander.
Der Moskauer Wirtschaftszeitschrift "Finans" zufolge kamen die 500 reichsten Russen 2007 auf ein Gesamtvermögen von mehr als 425 Milliarden Dollar, 50 Prozent mehr als 2005. Im Vergleich dazu nimmt sich der Anstieg der Realeinkommen 2005 um etwa zehn Prozent auf durchschnittlich 12.000 Rubel (460 Dollar) monatlich bescheiden aus. Vor allem aber stehen den neuen Superreichen rund 21 Millionen Russen gegenüber, die unterhalb des Existenzminimums in bitterer Armut leben.
Die Gründe für diese Entwicklung reichen bis in die 1990er-Jahre zurück, als sich das Land im Übergang vom plan- zum marktwirtschaftlichen System befand. Vom Ausverkauf einer ganzen Volkswirtschaft profitierten findige Unternehmer - die so genannten Oligarchen, die noch heute die russische Wirtschaft beherrschen. Die Mehrheit der Bevölkerung ging bei dieser Turbokapitalisierung leer aus. Deren Dynamik ist beeindruckend: In den vergangenen Jahren ist Russlands Wirtschaft um rund sieben Prozent pro Jahr gewachsen. Prognosen zufolge könnte das Land bei einem anhaltend hohen Wachstum in acht Jahren Deutschland von seinem Platz als fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt verdrängen.
Zahlreiche Städte in den Öl- und Gasprovinzen erleben derzeit einen Aufschwung, der nach dem Willen der Regierung auf das ganze Land übergreifen soll. Dass es dazu kommt, ist aber unwahrscheinlich: Viele Regionen werden von der ökonomischen Dynamik abgehängt, nicht zuletzt weil ihre Einwohner in die wirtschaftlich florierenden Zentren abwandern. Zudem werden die positiven Wirtschaftsaussichten getrübt durch eine demografische Krise, die sich kurzfristig schwer wird lösen lassen. Die Geburtenrate im größten Flächenstaat der Welt stagniert auf niedrigem Niveau, die Lebenserwartung sinkt dramatisch - Folgen einer verfehlten Gesundheitspolitik in sowjetischer und postsowjetischer Zeit.
Auch die sozialen Sicherungssysteme, die sich in Russland im Aufbau befinden, werden durch die demografische Krise belastet - zumal immer mehr Arme auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Die politische Führung steht also vor einigen Herausforderungen. Zwar wurden unter Putin erstmals seit Ende der Sowjetunion ernsthafte sozialpolitische Reformanstrengungen unternommen - vor allem in den Bereichen Ausbildung, Gesundheitswesen, Wohnen und Landwirtschaft.
Dennoch ist das Vertrauen der russischen Bevölkerung in die sozialpolitische Kompetenz ihrer Führung gering. In einer Umfrage des Lewada-Zentrums von 2007 bejahte fast die Hälfte der Befragten die Aussage, dass sich die Regierung nicht um den sozialen Schutz der Bevölkerung kümmere. Dass derzeit bei den Moskauer Neureichen Wohltätigkeitsbasare sehr in Mode sind, ist nur ein schwacher Trost.
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.