WIRTSCHAFT
Die Aussichten sind so unsicher wie seit Jahrzehnten nicht mehr
Die Sendung heißt "Issue Nr. 1". Bei der Mittagsshow geht es um Wirtschaft, aber das muss CNN nicht erst erwähnen: Die Zukunft der Wirtschaft ist für die meisten Amerikaner zum politischen Thema Nummer eins geworden, vor dem Irakkrieg und dem Kampf gegen den Terrorismus. Die Frage, ob es John McCain und Barack Obama gelingt, auf diese Sorgen ihrer Landsleute einzugehen, könnte den Wahlausgang entscheiden.
Zwar ist die befürchtete Rezession in den ersten beiden Quartalen 2008 ausgeblieben, vor allem weil die Regierung in einem Konjunkturprogramm 150 Milliarden Dollar unter die Bürger verteilte und die Notenbank Federal Reserve die Zinsen radikal senkte. Aber die Finanzkrise, die am Anfang des Wirtschaftsabschwungs stand, ist hartnäckiger und gefährlicher, als selbst Insider vor einem Jahr annahmen. Dann kam der Ölschock hinzu: Im ersten Halbjahr 2008 stieg der Preis für ein Fass (Barrel) Rohöl von 100 Dollar auf 150 Dollar. Der schwache Dollar ist Ausdruck dieser Krisen und verschärft sie gleichzeitig.
Fast jeder Amerikaner ist betroffen: Benzin kostete während der Ferienzeit, je nach Bundesstaat, zwischen vier und fünf Dollar pro Gallone. Mit umgerechnet 70 bis 90 Euro-Cent pro Liter ist das für europäische Verhältnisse immer noch billig, doch der relative Anstieg war in den USA steiler als in Deutschland. In ländlichen Gegenden der Südstaaten ohne öffentlichen Nahverkehr müssen Arbeitnehmer 15 Prozent ihres Einkommens aufwenden, nur um mit dem Auto zur Arbeit zu kommen.
Im Immobilienbereich sind die Preise von Einfamilienhäusern im Schnitt um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Der Rückgang hat nicht nur Vermögen, sondern auch Kaufkraft vernichtet. Denn viele Familien hatten ihre Immobilie beliehen, um den Lebensstandard halten zu können. Die Zahl der Zwangsversteigerungen nimmt dramatisch zu. Vermutlich werden am Jahresende eine Million Eigenheime betroffen sein. Das Verbrauchervertrauen geht zurück, die Arbeitslosigkeit steigt. Die Vereinigten Staaten müssen also mit einer "tödlichen Cocktail-Mischung" fertig werden, meint Professor Nouriel Roubini von der New York University: Erstens einem Ölpreisschock, vergleichbar dem von 1973/74, der die Stagnation der siebziger Jahre eingeleitet hatte. Zweitens einer Finanzkrise wie der von 1990/91, die Amerika in eine schwere Rezession gestürzt hatte. Roubini erwartet daher eine "lange, hässliche und tiefe Rezession". Selbst wenn Amerika eine Rezession vermeiden sollte, bleibt die Lage bis weit in das Jahr 2009 hinein gefährlich. Die Immobilienpreise sinken in Teilen des Landes dramatisch, immer mehr Familien sind überschuldet, die Hypothekenkrise hat sich zu einer Kreditkrise ausgewachsen, die großen Banken haben ihre Bilanzprobleme noch lange nicht bewältigt, mehrere kleine Institute dürften bis Ende des Jahres zusammenbrechen.
"Wir befinden uns in einem Prozess sinkender Vermögenswerte", sagt John Lipsky, der Vizedirektor des Internationalen Währungsfonds (IWF). "Es gibt noch keine Indizien dafür, dass dieser Rückgang zu Ende ist, das Vertrauen ist noch nicht zurückgekehrt."
Jahrelang wurde den Amerikanern vorgeworfen, sie lebten über ihre Verhältnisse. Jetzt erzwingen die Marktkräfte eine schnelle und brutale Korrektur: Grund und Boden werden abgewertet, die Banken, die mit abenteuerlich wenig Kapital profitable Geschäfte ohne realen Hintergrund machten, müssen unter schwierigsten Bedingungen den Kurs ändern. Am Ende wird sich das Sparverhalten der Amerikaner normalisiert haben, die volkswirtschaftliche Sparquote dürfte dann, wie in anderen Ländern, positiv werden. Das notorische Handelsdefizit der USA wird zwar nicht verschwinden, aber es wird sich auf ein ungefährliches Maß reduzieren. Nichts garantiert allerdings, dass der Prozess reibungslos verläuft, zum Beispiel bei der Sanierung der Staatsfinanzen. Die Regierung muss einen wesentlichen Teil zu der Anpassung beitragen. Durch Steuersenkungen und höhere Ausgaben, auch für die Sicherheit nach dem Terrorangriff 2001, hatte Präsident Bush die Haushaltsüberschüsse der Ära Clinton in hohe Defizite verwandelt. Dank des Aufschwungs nach 2003 hatte sich die Lage etwas entspannt, doch nun macht die Finanzkrise alle vorsichtigen Haushaltsplanungen zunichte.
Derzeit wird der Etat noch durch Überschüsse aus dem System der Sozialversicherung entlastet. Weil aber auch in Amerika nach und nach die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit in den Ruhestand gehen, werden diese Überschüsse bis zum Jahr 2015 verschwinden. Wegen der Ausgaben für "Social Security", die im Prinzip der deutschen Rentenversicherung entspricht, und für "Medicare", die Krankenversicherung der Rentner, droht den Vereinigten Staaten 2015 eine Haushaltskrise.
Notenbankchef Ben Bernanke hat öffentlich davor gewarnt. Doch die rechtzeitige, vorbeugende Arbeit an solchen langfristigen Herausforderungen fällt in Washington nicht leichter als in Berlin. Beide Präsidentschaftskandidaten, John McCain und Barack Obama, haben versprochen, den Haushalt zu sanieren. Doch nun werden andere Themen wichtiger: der Umgang mit der Finanzkrise, die Stärkung der Mittelschicht, die Beruhigung von Stammwählern. McCain will die - von ihm früher bekämpften - Steuersenkungen Bushs beibehalten, was in den Folgejahren zu Ausfällen in dreistelliger Milliardenhöhe führen wird. Obama will die Steuererleichterungen nur für kleine und mittlere Einkommen beibehalten, nicht aber für Vermögende, und er will zudem die Kapitalgewinnsteuer erhöhen. Außerdem sollen gut verdienende Amerikaner mehr in die Sozialversicherung einzahlen; hier bleibt sein Programm betont vage - er möchte den Vorwurf vermeiden, er sei ein "Big-Government"-Demokrat, der Abgaben und Steuern erhöhe.
Sollte die Finanzkrise über die Wahl hinaus anhalten, wird der neue Präsident, ob McCain oder Obama, wohl ein weiteres Konjunkturprogramm auflegen. Der geplante Schutz bedrängter Hausbesitzer vor Zwangsversteigerungen wird zusätzliche Milliarden kosten. Die Sanierung der Staatsfinanzen wird also aufgeschoben.
Die Wirtschaftspolitik wird sich auch dauerhaft auf hohe Energiepreise einstellen müssen. Im Management ist diese Erkenntnis längst verbreitet. "Unsere Gesellschaft baut auf billiger Energie auf, also auf niedrigen Transportkosten", sagt Rick Schwein, Topmanager eines großen Mühlenkonzerns aus dem Mittleren Westen. "Wir müssen überdenken, was wir wo produzieren." Der neue Präsident wird eine schwierige ökonomische Ausgangslage erben.
Der Autor ist USA-Wirtschaftskorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in New York.