LATINOS
Statistiker erwarten, dass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung auf fast ein Viertel ansteigen wird. Probleme bleiben da nicht aus
Einer Mischung aus Statistik und Zufall verdankte es die kleine Alessandra Marcela Ruiz, dass sie schon kurz nach ihrer Geburt eine Berühmtheit war: Am 16. Oktober 2006 um 7.46 Uhr morgens zeigte der Fernsehsender CNN Bilder von dem neugeborenen Mädchen in einem Krankenhaus in Kalifornien und ernannte sie zum 300 Millionsten Einwohner der USA. Das war ein Akt der Willkür. Wenige Tage zuvor hatte das US-Statistikamt bekannt gegeben, dass an diesem Tag um diese Uhrzeit die Bevölkerung der USA einen neuen Einwohner-Rekord erreichen werde. Und es war kein Wunder, dass CNN ein kleines Latino-Mädchen als das Millionenbaby auswählte.
Keine andere Bevölkerungsgruppe wächst so stark wie die der Einwanderer aus Süd- und Mittelamerika. Im Gegensatz zu weißen Frauen gebären hispanisch-stämmige Frauen im Durchschnitt ein Kind mehr. Hinzu kommen jährlich hunderttausende illegale Einwanderer, die über die Südgrenze der USA aus Mexiko ins Land gelangen. Bei der Mehrheit der Einwanderer handelt es sich um Menschen aus ländlichen Gebieten mit einer geringen Bildung, die einfache Arbeiten verrichten und meist kein Englisch sprechen - im Gegensatz zu asiatischen oder den meisten muslimischen Einwanderern.
Statistiker erwarten, dass sich der Anteil der Latinos bis 2050 auf fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung verdoppeln wird. Ohne lateinamerikanische Einwanderer würden die USA heute lediglich 250 Millionen Einwohner zählen. Schon heute wird anhand der Zahlen deutlich, dass sich die ethnische Zusammensetzung der USA in den kommenden Jahren drastisch verändern wird. Latinos, Asiaten und Schwarze stellen 43 Prozent der Bevölkerung der unter 20-jährigen Amerikaner, heißt es im jüngsten Bericht des Statistikamtes. 2003 hatten Latinos die Afroamerikaner als größte Minderheit der USA überholt. Damals registrierten die Statistiker 39 Millionen Hispanics, das entsprach 13 Prozent der US-Bevölkerung. Afro-Amerikaner zählten damals 37 Millionen, ihre Zuwachsrate von 3,1 Prozent lag weit hinter der der Latinos (9,8 Prozent) und der Asiaten (9 Prozent). Heute wird der Bevölkerungsanteil der Latinos auf 15 Prozent geschätzt. Die Mehrheit der Hispanics lebt in den Staaten an der mexikanischen Grenze: Kalifornien, Arizona, Texas und New Mexiko. Doch auch in landwirtschaftlichen Zentren, wie der Stadt Seward in Kansas mit ihren gigantischen Fleischverpackungs-Fabriken, gibt es Latino-Viertel. Selbst in der Region um Washington wächst die Latino-Gemeinde rapide. In fünf suburbanen Landkreisen um die US-Hauptstadt gehören jetzt mehr als die Hälfte der Kinder unter vier Jahren einer Minderheit an - die meisten von ihnen sind Latinos.
Viele weiße US-Bürger verfolgen diese Entwicklung mit Skepsis. Nach Angaben des Gallup Instituts halten 39 Prozent der Amerikaner den Zuwachs an Latinos für ein "sehr großes Problem" und weitere 38 Prozent für "ein Problem". Immigranten bedeuten zwar mehr billige Arbeitskräfte und Konsumenten, aber viele Amerikaner befürchten kulturelle Veränderungen und den Zusammenbruch ihrer Sozialstruktur. Gemeinden debattieren darüber, ob man Kindern illegaler Einwanderer Bildung verweigern soll, um andere abzuschrecken, oder ob es besser ist, die rasant wachsende Minderheit in der Landessprache zu unterrichten, um sie zu integrieren. In einigen Gegenden der USA wird Spanisch quasi als Zweitsprache gesprochen. Das jahrzehntealte Konzept des "melting pot", das Einwanderer aus allen Teilen der Welt zu englischsprechenden Amerikanern machte, funktioniert dort nicht mehr.
Die Dominanz der Latinos führt bisweilen zu Rivalitäten unter den Minderheiten, vor allem mit den Schwarzen. Experten machen den zum Teil unter Latinos herrschenden Rassismus verantwortlich. Andere sprechen schlichtweg von einem Verdrängungskampf. So kommt es in Gefängnissen im Südwesten des Landes zu erheblicher Gewalt zwischen Gangs der Latinos und der Schwarzen. In Los Angeles gab es offenbar "ethnische Säuberungen", in denen eine hispanische Mehrheit die schwarze Minderheit aus Stadtteilen vertrieb.
Auch im Präsidentschaftswahlkampf 2008 hörte man Befürchtungen, Latino-Wähler würden dem demokratischen Kandidaten Barack Obama wegen seiner Hautfarbe die Stimme verwehren. Tatsächlich hatte Barack Obamas Rivalin Hillary Clinton während der Vorwahlen zwei Drittel der Latino-Stimmen erhalten. Doch seit der Republikaner John McCain Obamas Gegner in der Hauptwahl ist, hat sich das Bild geändert. Zwei Drittel der Latinos wollen nun den afroamerikanischen Demokraten Obama unterstützen.
Die Autorin ist USA-Korrespondentin der "Berliner Zeitung"