LEBENSRISIKEN
Deutsche glauben an den Staat, Amerikaner an Selbsthilfe
Anna ist Deutsche und arbeitet seit zwei Jahren in einem Forschungsinstitut in den USA. Als größte Herausforderung empfindet sie weder die Forschungsmethoden noch die Essensgewohnheiten oder die Sprache - sondern die Einstellung der Amerikaner zu den Lebensrisiken. Sie ist stolz auf den deutschen Sozialstaat, aber hier wird dieser Stolz jeden Tag aufs Neue herausgefordert.
Anna hat jetzt zwölf Arbeitstage Urlaub im Jahr, nicht sechs Wochen wie daheim. Das ist bedauerlich, aber nicht existenzbedrohlich wie die Regelung der Karenztage. Davon gibt es auch nur zwölf pro Jahr. Und wenn jemand länger krank wird, hat sie gefragt? Dann setzt die Gehaltszahlung aus.
Neulich hatten sie so einen Fall im Labor: Eine junge Frau war schwanger im sechsten Monat, es gab Komplikationen, und der Arzt riet, sie solle zu Hause bleiben, um das Ungeborene nicht zu verlieren. Also aufs Gehalt verzichten? Das war nicht nötig. Es gibt eine Kommission, die in solchen Fällen per Rundmail die Bitte an alle Mitarbeiter verschickt, eigene Urlaubs- oder Krankentage für Notleidende zu spenden. Solidarität, lernte Anna, gibt es auch in den USA. Aber sie wird nicht von Staats wegen geleistet, sondern freiwillig-mitmenschlich.
In ihrem Labor führte das zu einer längeren Debatte. Anna erzählte vom deutschen System, vom monatelangen Schwangerschaftsschutz, dem Erziehungsgeld und der sehr langfristigen Arbeitsplatz- und Lohnfortzahlungsgarantie bei Krankheit.
Die Amerikanerinnen hörten es teils neidvoll, teils verwundert, kamen aber unisono zu dem Schluss: "Bei uns würde das nicht funktionieren." Wieso? "Weil das hier jeder ausnutzen würde." Nun ja, dachte sich Anna, in Deutschland nutzen es ebenfalls viele aus. Auch andere Aussagen ihrer US-Kolleginnen würde Anna von deutschen Arbeitnehmern wohl nie hören. "Es ist meine private Entscheidung, ob ich ein Baby haben möchte. Das geht den Staat nichts an." Und doch ist die Geburtenrate in den USA viel höher als in Deutschland.
In Annas US-Institut wird alle paar Monate eine Geburt gefeiert. In ihrer Forschungseinrichtung in Berlin bekam über Jahre keine Kollegin ein Baby, trotz staatlicher Förderung.
Ähnlich schockierend klingen für sie amerikanische Ansichten zur deutschen Krankenversicherung. Das sei doch "Sozialismus". Ihre Kolleginnen nennen es zwar skandalös, wenn Millionen Amerikaner eine Krankenversicherung wollen, sie aber nicht haben, weil die Police zu teuer ist. Eine Grundabsicherung für alle fänden sie gut.
Welche Risiken ein Bürger jedoch bis zu welchem Grad absichert, müsse er wählen dürfen, das habe nicht der Staat zu bestimmen. Die Übernahme von Risiko empfinden Annas Kolleginnen als Wahlfreiheit, die verordnete staatliche Absicherung als Gängelung. Ob alle Amerikaner von neoliberaler Ideologie infiziert seien, fragte Anna.
Nein, antwortete eine Amerikanerin, die länger in Deutschland lebte. "Wir halten euren Glauben an den Staat für Ideologie." Steuern und Abgaben seien zwar nötig, aber nach aller Erfahrung die uneffektivste Art, Geld einzusetzen. "Die Individuen wissen besser als der Staat, was sie brauchen und wie sie Geld sinnvoll ausgeben."