INTERNET
Die Chancen nutzen nicht alle, die Risiken fürchtet dagegen jeder
Wann genau Hillary Clinton den Zweikampf mit Barack Obama verloren hat, wird sich vielleicht nie exakt bestimmen lassen. Man kann aber ziemlich genau sagen, wann sie eine Ahnung bekam, dass sie im Rennen um die Nominierung der Demokraten unterliegen könnte. Es war im März 2007, rund zehn Monate vor Beginn der Vorwahlen. Obama und Clinton liefen sich allmählich warm. Plötzlich tauchte im Internet ein Spot auf, der Clinton auf gigantischen Videoleinwänden als "Big Brother" zeigte, wie sie monoton zu einer gesichtslosen Menschenmasse predigt - bis eine Zuhörerin den Aufstand wagt und einen Vorschlaghammer gegen die Riesenleinwand mit dem gigantischen Clinton-Konterfei schleudert.
Der kurze Streifen erinnerte an einen berühmten Werbespot, mit dem einst Aufsteiger "Apple" den etablierten Riesen "IBM" herausgefordert hatte. Er zeigte auch bei den Demokraten Wirkung: 1,3 Millionen mal wurde der Spot gleich in den ersten Tagen online angeklickt. Er war anonym ins Netz gestellt worden, die Obama-Berater leugneten jede Verantwortung. Doch die Rollenverteilung kam ihnen zupass: Clinton erschien wie eine Vertreterin des "alten Washington", Obama frisch wie einst die "Apple"-Revolution.
Es ist bezeichnend, dass dieser Einschnitt vom Internet ausging. Der Wahlkampf 2008 wird stärker vom neuen Medium geprägt als jede Abstimmung zuvor. "In den vergangenen vier Jahren haben wir einen Quantensprung gesehen", sagt Joe Trippi. Er hatte 2003/04 den Wahlkampf des damaligen demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Howard Dean gemanagt - und wurde als Internet-Pionier verehrt, weil er für Dean rund 100 Millionen Dollar Spenden vor allem online sammelte und weil er Deans junge Anhänger per Mausklick koordinierte. "Im Vergleich zu heute lebten wir damals in der Steinzeit", sagt Trippi im Rückblick. YouTube stand seinerzeit noch nicht zur Verfügung - das Internetportal, auf dem jedermann Filme und Spots ins Web stellen oder bequem herunterladen kann. Der Generationenwechsel ist offensichtlich: Trippi, 52, ist heute nur noch als Berater tätig. Die Online-Offensive Barack Obamas koordinieren Leute in den Zwanzigern. Darunter ist einer der Gründer der höchst erfolgreichen Netzwerk-Seite "Facebook", Chris Hughes.
Der Dekan von Harvards Kennedy School of Government, David Ellwood, sagt: "Wer über 30 Jahre alt ist, kann diese technologische Revolution gar nicht verstehen." Barack Obama ist zwar bereits 47 Jahre alt, doch er hat am entschlossensten von allen US-Politikern auf den Online-Wandel gebaut. Seine Wahlkampfmanager nutzen das Medium aggressiv, um ihre Botschaft zu verbreiten - nach einer Umfrage des Pew Research Center holen sich mittlerweile ein Viertel der Amerikaner ihre Infos zum Wahlkampf vorwiegend online. Unter US-Bürgern bis 29 ist es sogar fast jeder Zweite. Bei der Netzwerk-Seite "My Space" sind über 430.000 "Obama-Freunde" registriert (zum Vergleich: sein republikanischer Rivale John McCain hat dort gerade einmal rund 60.000 Freunde). Auf Obamas "Facebook"-Seite haben sich mehr als eine Million Unterstützer eingetragen.
Der Senator aus Illinois hat das Netz auch in einen gigantischen Geldautomaten für seine Kampagne verwandelt. Der ganz überwiegende Teil seiner über 1,7 Millionen Spender hat per Mausklick Geld gegeben. Die populärsten Obama-Botschaften erreichen online das breiteste Publikum. Das Video eines "Obama Girl", das dem demokratischen Bewerber musikalisch ihre Liebe gestand, verbreitete sich 2007 wie ein Lauffeuer im Internet. Als Obama im März 2008 nach Kontroversen um umstrittene Aussagen seines langjährigen Pastors Jeremiah Wright eine mehr als einstündige Rede zu Rassenbeziehungen halten musste, schauten sich rund sechs Millionen Menschen den Auftritt im Netz an. Das Video zu Obamas Wahlkampfslogan "Yes, we can", vom Sänger der Erfolgsband "Black Eyed Peas" produziert und mit Hollywoodstar Scarlet Johannson in einer Hauptrolle, ließ Pop und Politik erfolgreich verschmelzen. Es wurde prompt ein Internet-Hit.
Auch Ex-Rivalin Hillary Clinton hatte trotz leichter Anlaufschwierigkeiten das Internet entschlossen genutzt. In witzigen Online-Spots zeigte sie gemeinsam mit Ehemann Bill ihre humorvolle Seite. Generell sehen die US-Demokraten die Online-Revolution als große Chance im Duell mit den Republikanern. Die Konservativen hatten im Politmarketing und der professionellen Wähleransprache lange vorne gelegen. Mit dem Internet taten sie sich freilich schwerer. Deren 72 Jahre alter Bewerber John McCain interessiert sich kaum für das Medium. Der erfolgreichste konservative Internet-Aktivist war bezeichnenderweise ein Republikaner, der keine Aussicht auf die Nominierung hatte: Ron Paul. Die Anti-Kriegsbotschaft des gelernten Mediziners begeisterte so viele junge Leute, dass Paul an einem einzigen Tag per Internet 6 Millionen Dollar einsammelte. Seine enthusiastischen Anhänger koordinieren ihre Aktionen auch nach Pauls offiziellem Ausscheiden aus dem Präsidentschaftsrennen weiter online. Doch der Online-Hype schafft auch neue Probleme für die Wahlkampfmanager, zum Beispiel bei der Kontrolle einer einheitlichen Botschaft. Obamas Team musste das kurz nach dem Ende der demokratischen Vorwahlen schmerzlich erfahren. Da rückte der Demokrat politisch in die Mitte und stimmte für ein Gesetz, das weitere Abhörmaßnahmen gegen US-Bürger erleichterte. Daraufhin kaperten enttäuschte Unterstützer Obamas Website, auf der es eigene Foren für Blogger und Diskussionsgruppen gibt. "Stimme Nein", stand dort zu lesen, bald war es einer der populärsten Blogs auf der Seite. Die Einträge enthielten harte Kritik - zum Beispiel, Obama habe seine Fans belogen.
Im Internet-Zeitalter sind zudem peinliche Momente schwerer aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Auf Portalen wie YouTube bleiben Videos zu den Fehltritten fast unbegrenzt abrufbar. Deshalb entfalteten Auszüge aus Predigten von Obamas umstrittenem Pastor Jeremiah Wright ("Gott verdamme Amerika") solche Wirkung. Gleiches gilt für die Bilder von Obama in afrikanisch-islamisch anmutenden Gewändern. Als peinlich für Hillary Clinton erwies es sich, dass sich jedermann im Internet den friedlichen Empfang bei ihrer Bosnien-Reise 1996 anschauen konnte. Sie hatte den Besuch als lebensgefährlichen Trip mitten ins Kriegsgebiet unter Beschuss durch Heckenschützen geschildert.
Wegen YouTube stehen die Kandidaten noch stärker unter Beobachtung. George Allen kann davon ein Lied singen. Bei der Kongresswahl 2006 war der Republikaner ein aussichtsreicher Senatskandidat in Virginia. Über Wochen folgte ihm der Mitarbeiter eines Konkurrenten und filmte Allens Auftritte mit einer Videokamera. Der Mitarbeiter hatte indische Vorfahren und dunkle Haut. Als Allen ihn wieder einmal im Publikum sah, begrüßte er ihn mit den Worten: "Willkommen, Macaca". Macaca ist ein Schimpfwort im frankophonen Nordafrika, abgeleitet vom Namen einer Affenart. Die Kamera des so begrüßten Mannes lief weiter, bald stand das Video im Netz - und die Entrüstung schwoll an, weil Allens Kommentar als rassistisch verstanden wurde. Allen, einst der klare Favorit, verlor die Wahl.
Auch Barack Obamas Bemerkungen über einfache Wähler, die sich angeblich aus Frustration über Wirtschaftskrise und Jobverlust an Waffen und Religion klammern, wurden zuerst von einer Bloggerin veröffentlicht. Sie war als Obama-Unterstützerin zu einem Spendensammel-Auftritt in San Francisco gekommen, der für die Presse geschlossen war. Auf die Vertraulichkeit nichtöffentlicher Kommentare können sich Spitzenkandidaten 2008 nicht mehr verlassen. Als Obama und Clinton nach dem Ende ihres Duells erstmals gemeinsam vor Parteifreunden auftraten, sollten die Journalisten auch draußen bleiben. Doch wenige Stunden später kursierten Bilder von ihrer Ansprache online, aufgezeichnet per Handy-kamera.
Für die US-Medien ist die Entwicklung zweischneidig. Zwar ermöglicht die Internetrevolution neue und schnellere Arten der Berichterstattung. Aber sie hat auch den Konkurrenzdruck deutlich erhöht. Fast jedes größere US-Medium unterhält eigene Wahlkampfblogs. Die Reporter, die mit dem Kandidaten reisen, müssen oft mehrmals am Tag nebenher noch die Blogs bestücken. Dadurch verwischen die Grenzen zwischen Klatsch und Fakten - und die einst im US-Journalismus so hochgehaltene Grenze zwischen objektiver Berichterstattung und subjektivem Kommentar.
Auch für die ausländische Presse hat die Online-Globalisierung ihre Schattenseiten. Da mittlerweile jedes Interview in jeder Sprache online abrufbar ist, sind US-Kandidaten noch vorsichtiger im Umgang mit ausländischen Medien geworden. Sie erinnern sich an das Schicksal von Obamas ehemaliger außenpolitischer Beraterin Samantha Power. Die hatte Hillary Clinton im Gespräch mit einer schottischen Zeitung ein "Monster" genannt. Binnen kurzem war das Zitat auch in den USA zu lesen - und Power schied aus dem Beraterstab aus. Während seiner Europareise im Juli gab Barack Obama keinem einzigen ausländischen Medium ein Interview.
Der Autor ist USA-Korrespondent beim Nachrichtenmagazin "Der Spiegel"