ZUWANDERUNG
Viele sehen sie als Bedrohung - gleichzeitig profitieren sie von ihr.
Ende Juni brachte "Time Magazine", noch immer ein verlässlicher Gradmesser politischer Aufgeregtheit in den USA, ein eindrucksvolles Titelbild: Es zeigte ein schwarzes Band, das eine weiße Wüste bis zum Horizont zerteilt - der Schlagschatten eines Maschendrahtzaunes im gleißenden Sonnenlicht. Dazu die Titelzeile: Amerikas Große Mauer.
Die Geschichte dazu erzählte von der gegenwärtig gigantischsten Baustelle in den Vereinigten Staaten. Auf Geheiß des US-Kongresses werden entlang der Grenze zu Mexiko gewaltige Zaun- und Befestigungsanlagen im Wüstensand errichtet. Bislang sind dafür 1,2 Milliarden Dollar genehmigt. Die Barriere soll gut ein Drittel der mehr als 3.000 Kilometer langen Grenze zwischen den USA und Mexiko abriegeln. Bislang trennte beide Länder meist nicht mehr als ein rostiger Viehzaun - und über weite Strecken eine Wüste mit mörderischer Hitze und Trockenheit als natürliche Barriere.
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert sind kontinuierlich Zuwanderer aus Mexiko und anderen Staaten Lateinamerikas illegal und praktisch ungehindert in die USA geströmt. Sie lockt die Aussicht auf Jobs in Fleischfabriken oder auf Gemüse- und Obstplantagen in Gringo-Land. Dafür erhalten sie allenfalls den US-Mindestlohn, aber selbst so verdienen sie in einer Stunde oft mehr als in der Heimat an einem Tag. Ehe der Bau des Zauns begann und die Kontrolle des Grenzlands drastisch verschärft wurde, kamen mehr als eine halbe Million Menschen jährlich unkontrolliert ins Land. Die Zahl der illegalen Einwanderer in den USA wird inzwischen auf mehr als zwölf Millionen geschätzt.
Der Zustrom aus dem Süden des Kontinents hat sich als schwere Belastung für das politische und soziale Klima erwiesen. Im Frühjahr 2005 nahmen die "Minute Men", selbst ernannte Bürgermilizen, zeitweise den Schutz der US-Grenze in die eigenen Hände - sehr zum Verdruss der professionellen Grenzwächter, die Übergriffe fürchteten.
Schon seit Jahren, lange vor Beginn der aktuellen Wirtschaftskrise, werden die Illegalen von vielen als lästige Konkurrenz gesehen, die amerikanischen Arbeitnehmern Jobs wegnehmen und die Löhne drücken. Tatsächlich arbeiten viele Zuwanderer zu Bedingungen, für die sich kein US-Bürger hergeben würde. Doch solange es immer genug Pflücker für die Farmen in Kalifornien oder Texas gibt, solange der Nachschub an willigen Arbeitskräften in den Fleischfabriken des Mittleren Westens nicht stockt, müssen Amerikas Farmer und Firmen nicht über höhere Löhne nachdenken - und die Verbraucher keine höheren Lebensmittelpreise zahlen.
In den großen Städten würden die sattgrünen Rasen der Vororte verdorren und das ausgeklügelte System der Kinderbetreuung zusammenbrechen, gäbe es nicht die Hispanics, die spanisch sprechenden Zuwanderer aus dem Süden. Die Hilfsarbeiten in Amerikas Gärten und Haushalten haben sie fest in ihrer Hand. Keiner ihrer Arbeitgeber in Suburbia fragt nach ihren Papieren. Auf den riesigen Parkplätzen der Baumärkte quer durchs Land lungern jeden Morgen Dutzende junger Männer herum - moderne Tagelöhner, die als Schwarzarbeiter bei Bau- und Gartenarbeiten aushelfen. Ohne sie wäre das gigantische Wachstum der amerikanischen Vorstädte in den vergangenen Jahren kaum zu bewerkstelligen gewesen.
Die Kosten-Nutzen-Rechnung der Zuwanderung ist vielschichtig, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Kaum einer der zwölf Millionen Illegalen kann sich eine Krankenversicherung leisten. In den Notaufnahmen der amerikanischen Krankenhäuser werden sie dennoch ärztlich versorgt - die Kosten werden auf die Allgemeinheit umgelegt. Oder bei der Schulbildung: Jedes Kind im Schulalter wird in den USA unterrichtet. Keiner fragt nach der Aufenthaltsberechtigung. Doch die Schulen werden finanziert von den Steuerzahlern im jeweiligen Schulbezirk. Die Illegalen zahlen (meist) keine Steuern. Und es gibt Ängste angesichts der Zuwanderungswelle. In vielen Städten, selbst Kleinstädten auf dem Land, haben sich Drogengangs organisiert - viele der gewalttätigen jungen Männer sind lateinamerikanischer Herkunft. Dann ist da die Sorge, dass Terroristen durch die durchlässige Grenze im Süden ins Land schlüpfen könnten. Und schließlich rumort in vielen - weißen - Amerikanern die Befürchtung, ihr Land könnte im wahrsten Sinne des Wortes sein Gesicht verändern. Ein Drittel der inzwischen mehr als 300 Millionen Amerikaner hat keine weiße Hautfarbe, Tendenz steigend. Zuwanderer lateinamerikanischer Abstammung sorgen allein für die Hälfte des Bevölkerungszuwachses von derzeit drei Millionen pro Jahr. Amerika war immer hin- und hergerissen zwischen Mythos und Wirklichkeit, zwischen dem Selbstverständnis als Einwanderungsland und der mitunter belastenden Realität der Immigration. Im Sockel der Freiheitsstatue auf Liberty Island im Hafen von New York steht die Einladung der USA an die Welt: "Gebt mir eure Müden, eure Armen, Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren." Das ist der Anspruch. Ein paar Meilen weiter aber, am Anleger der Schiffe, welche die Besucher zur Statue bringen, lassen sich die bitteren Verdrängungskämpfe beobachten zwischen den Angehörigen der jüngsten Einwandererwellen: fliegende Händler aus Schwarzafrika, Musiker aus der Karibik, Hotdog-Verkäufer aus Südostasien, Taxifahrer aus Zentralasien.
Die USA haben seit dem Zweiten Weltkrieg mehr Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen als jede andere Nation. Legal kommen jährlich nach wie vor etwa eine Million Einwanderer ins Land. In den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten ist die Bevölkerungszahl der USA um mehr als 50 Prozent gewachsen. Die Unruhe in allen Schichten der Gesellschaft löst aber nicht die legale Einwanderung aus, sondern der enorme unkontrollierte Zustrom aus Lateinamerika. Angesichts der gesellschaftlichen Spannungen spielt das Thema im Präsidentschaftswahlkampf eine erhebliche Rolle - in beiden Lagern.
Die republikanischen Bewerber überboten sich wechselseitig in krachledernen Versprechen, die Grenze dicht zu machen. Bei den Demokraten begann Hillary Clintons politischer Einbruch, nachdem sie in einer der unzähligen Kandidatendiskussionen keine schlüssige Antwort auf die Frage fand, ob illegale Zuwanderer nun den Führerschein machen dürfen oder nicht. Der Pragmatismus und die Verkehrssicherheit sprechen dafür. Die Prinzipientreuen empfinden es als Provokation, dass Illegale den Führerschein bekommen sollen, der in den USA wie der Personalausweis in Deutschland benutzt wird.
Seitdem Barack Obama und John McCain als Kandidaten ihrer Parteien feststehen, ist das Thema etwas in den Hintergrund getreten. Wer auch immer von den beiden ins Weiße Haus einzieht, wird die Debatte wieder beleben müssen. "The fence", die gut tausend Kilometer lange Grenzanlage, wird weitergebaut. Die Mittel sind genehmigt und jeder Versuch, das Projekt zu stoppen, käme vermutlich einem politischen Selbstmord nahe. Obama und McCain haben im Senat seinerzeit für den Zaun gestimmt und für die Verstärkung der Grenzschützer, die Jagd machen auf die Illegalen und Drogenschmuggler.
Zugleich aber hat Obama immer wieder auf "die andere Seite der Gleichung" hingewiesen. Illegale sollen - ähnlich wie es die Regierung Bush vergeblich durchzusetzen versucht hatte - nach Zahlung einer Strafe und einer Schamfrist die Chance erhalten, legal einzuwandern. US-Arbeitgeber, die Illegale beschäftigen, sollen viel härter bestraft werden. Das war bisher selten der Fall. Und er will helfen, die wirtschaftlichen Verhältnisse in Mexiko so zu verbessern, dass der ökonomische Anreiz für den illegalen Grenzübertritt geringer wird. Obama verspricht, was Immigrationsexperten seit Jahren fordern: eine "comprehensive solution", eine ganzheitliche Lösung für die Ursachen des Problems und nicht nur ein drakonisches Grenzregime.
So ähnlich hatte bis vor einem Jahr auch John McCain laut und vernehmlich argumentiert. Dann aber wurde er im Vorwahlkampf von seinen republikanischen Rivalen attackiert, zum Beispiel dem Grenzschutzfetischisten und Abgeordneten Tom Tancredo, der Amerika in eine Festung verwandeln und alle Illegalen aus dem Land werfen möchte. Er fand mit solch banaler Kraftmeierei Zulauf an der Parteibasis. Allen, die wie McCain zu Recht einwandten, dass der Zwangsexodus von zwölf Millionen untergetauchten Illegalen völlig wirklichkeitsfern wäre, warfen Tancredo und Co vor, sie wollten zwölf Millionen Rechtsbrechern eine Amnestie verschaffen.
Jetzt sucht man in McCains Programm vergeblich die Rubrik "Einwanderungspolitik". Statt dessen findet man seine Positionen unter der Überschrift "Grenzsicherheit". Ganz am Ende der Passage, nach langen Ausführungen zur Sicherung der Grenzen und zu einer Ausweispflicht für Gastarbeiter, sagt er im Prinzip nichts anderes als Barack Obama: Den illegalen Einwanderern muss ein Weg zur US-Staatsbürgerschaft gewiesen werden. Beide Kandidaten streben also eine "comprehensive solution" an, wobei John McCain mehr Rücksicht auf die rechte Parteibasis nehmen muss. Angesichts der zu erwartenden demokratischen Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses stehen die Chancen gut, dass der 44. Präsident der Vereinigten Staaten damit mehr Erfolg haben wird als sein Vorgänger George W. Bush. z
Der Autor ist USA-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung"