WERTE
Wunsch nach Korrektur des Verhältnisses zwischen Religion und Politik.
Erstmals sprechen beide Präsidentschaftskandidaten offen über ihren Glauben
Wäre Jesus ein Amerikaner, würde er dann republikanisch wählen? So formuliert klingt die Frage absurd. Doch zahlreiche US-Bürger und die meisten Europäer glauben, dass die christliche Religion in Amerika schon immer eine konservative Kraft war - und es auch bleiben wird. Das Phantombild des religiösen US-Amerikaners zeigt einen Rechten, dem wichtig ist, wie Politiker zu Homosexuellenehe und Scheidung stehen, der Abtreibung ablehnt, aber für die Todesstrafe eintritt und die Bibel schon mal wörtlich nimmt.
Die politische und kulturelle Dominanz der religiösen Rechten in "Gods own country" bröckelt jedoch. Der Kolumnist der "Washington Post", E. J. Dionne, hat dazu jüngst ein Buch geschrieben, "Souled out": Mit der Ära Bush gehe auch die goldene Zeit der religiösen Rechten zu Ende. Ihr ideologisch geprägter Konservatismus sei im Niedergang. Ihr letzter Höhepunkt war 2004 zu besichtigen, als evangelikale Christen entscheidend zur Wiederwahl George W. Bushs beitrugen. Seitdem habe die religiöse Rechte eine Serie entscheidender, und wie Dionne meint, "fataler Schläge" erlitten - und das ausgerechnet durch die Politik "ihres" Präsidenten Bush. Mit dessen Sozialpolitik, seinen Kriegen sowie der daraus folgenden Beschädigung des US-Images in der Welt mögen sich auch zahlreiche Evangelikale nicht abfinden.
Dionne und Amy Sullivan vom "Time"-Magazin erkennen Vorboten einer christlichen Reformbewegung im Land. Die mühe sich, ihren im Getriebe der Powerpolitik beschädigten Glauben wieder zu heilen und sich der politischen Manipulation durch die eigenen Eliten zu entziehen. Die politische Instrumentalisierung des Glaubens unter Bush kam für manche überraschend. Denn der Verfassung nach sind die Vereinigten Staaten strikt säkular. Anders als in Deutschland wird die Trennung von Staat und Kirche organisatorisch konsequent durchgehalten. In Deutschland zieht der Staat Kirchensteuern ein, in den USA wäre das undenkbar. Die Religion eines Menschen ist in den USA Privatsache, der Staat hat sich da nicht einzumischen. In der politischen Rhetorik gilt freilich das genaue Gegenteil. Amerikaner wünschen, dass ihre Politiker auch über Religion reden. In den USA schließen Politiker, ob Demokraten oder Republikaner, ihre Reden gewöhnlich mit der Formel "Gott segne Amerika!"
In der Hitze der Washingtoner Machtpolitik haben sich die Evangelikalen ein paar Brandblasen geholt. Die religiöse Rhetorik des Weißen Hauses, sagen Kritiker, habe zu einer Entfremdung vom Glauben beigetragen. Die Fernsehpfarrer nahmen den Kampf gegen homosexuelle Partnerschaften wichtig. Engagement für den Frieden im Sinn einer Kritik am Irak-krieg war in den evangelikalen Gottesdiensten kaum zu hören. Das empfinden jüngere wertkonservative Christen heute als Versäumnis. Sie interessieren sich für den Umwelt- und Klimaschutz, weil sie darunter die Bewahrung von Gottes Schöpfung verstehen, und finden den charismatischen demokratischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama cool. In ihren Reihen, so vermuten manche Wahlexperten, könnte Obama entscheidende Wechselwähler finden. Der religiöse Zentrist Obama kommt bei ihnen laut Umfragen jedenfalls besser an als bei der weißen katholischen Unterschicht, die Vorbehalte wegen seiner Hautfarbe habe. Auch viele Republikaner wünschen in diesem Wahljahr eher Pragmatismus als religiöses Sendungsbewusstsein. Ihr Kandidat, der liberal-konservative Baptist John McCain, hat sich bislang an Hetzereien gegen Homoehe und Abtreibung nicht beteiligt. Der Kulturkampf um beide Themen in der Ära George Bush scheint also passé.
Wie groß der Wunsch nach einer Korrektur im Verhältnis von Religion und Politik ist, zeigt auch das Engagement von Ex-Präsident Jimmy Carter, selbst ein frommer Baptist und Bibellehrer. Kürzlich stellte er sich an die Spitze einer Rettungsbewegung für die Zukunft des amerikanischen Protestantismus. Die gemäßigten Protestanten hatten lange unter der fundamentalistischen Verve der Evangelikalen gelitten und unter deren Anspruch, für den Protestantismus schlechthin zu sprechen. Carter gelang es im Januar dieses Jahres, 11.000 weiße und schwarze Baptisten sowie Latinos zu versammeln, um aus moderat religiöser Perspektive über Armut, Gesundheit und Glaubensvermittlung zu sprechen. Es war das erste Treffen dieser Dimension seit 160 Jahren. Bei näherem Hinsehen ist die Religionslandschaft in den USA genauso vielfältig, wie die ganze zusammengewürfelte Einwanderernation. Die konservativen Glaubenströmungen haben zwar viel mehr Einfluss als in Europa. Aber das Gesamtbild ist einem rasanten Wandel unterworfen.
Das "Pew Forum on Religion & Public Life" hat die derzeit umfangreichste Erhebung über die Religionen in den USA vorgelegt. Rund 44 Prozent aller US-Erwachsenen haben laut der Studie ihren ursprünglichen Religionsstatus (bei der Geburt) aufgegeben, um sich entweder einer anderen Gemeinschaft anzuschließen oder um gar keiner anzugehören oder um erstmals einer Konfession beizutreten. Die Zahl der Protestanten ist prozentual erstmals geschrumpft: Nur noch 51 Prozent der erwachsenen US-Amerikaner sind Mitglied einer protestantischen Kirche. Diese Großgruppe ist fragmentierter als je zuvor. Sie gliedert sich in mehrere hundert Glaubensgemeinschaften.
Die stärksten Verluste erleidet die katholische Kirche. Sie ist mit 70 Millionen Mitgliedern die größte Einzelkirche der USA, erlebt aber zugleich die dramatischste Fluktuation. 31 Prozent der US-Amerikaner sind im katholischen Glauben erzogen worden. Aber nur noch knapp 24 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als katholisch. Unter ihnen sind mehr und mehr Neuankömmlinge, hauptsächlich Einwanderer aus den katholisch geprägten Staaten Mittel- und Zentralamerikas.
In manchen Regionen der USA ist deshalb aus einer einst von Weißen geprägten Konfession eine hispanisch dominierte Kirche geworden. Der Katholizismus in den USA wird, wenn man so will, von der lateinamerikanischen Immigration am Leben erhalten. Ohne sie würde diese Gemeinschaft überaltern und schrumpfen.
Die Glaubenswelten der USA unterliegen zwar einem schnellen Wandel, bleiben dabei aber höchst vital. Das drückt sich auch im Präsidentschaftswahlkampf aus. Erstmals sprachen nicht nur die republikanischen Kandidaten offen über ihren Glauben, sondern auch Barack Obama. Früher galt da eine parteipolitische Trennung: Republikaner betonten üblicherweise ihren Glauben und beklagten, dass Religion im öffentlichen Leben eine zu geringe Rolle spiele. Demokratische Politiker unterstrichen dagegen die Trennung von Politik und Religion in der Verfassung. Obama hatte diese säkulare Zurückhaltung der Demokraten schon lange einen Fehler genannt. Er sagte, seine Partei müsse bedenken, dass auch ihre Wähler mehrheitlich einer Kirche angehören. Clinton und Obama hatten mit ihrer Bereitschaft, auch über Glaubensfragen zu sprechen, zusätzliche Wählergruppen erschlossen; beide beeindruckten mit religiöser Intellektualität - der demokratische Präsi- dentschaftskandidat aber mehr noch mit religiöser Authentizität und gelebter Selbstverständlichkeit. "Washington Post"-Kolumnist E. J. Dionne interpretiert Obamas Botschaft der Hoffnung als "bedeutsame Wiederentdeckung der Religion" in den USA.