Mindestlohn
Experten bezeichnen die Regierungspläne mehrheitlich als Schritt in die richtige Richtung
Harald Olschok hat Angst: "Es genügt, wenn einige Tausend Arbeitskräfte aus Osteuropa den Weg nach Berlin auf sich nehmen, um unser Tarifgefüge völlig durcheinander zu bringen." Olschok wurde als Vertreter des Bundesverbandes Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen in die Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 5. November geladen. Auf der Tagesordnung standen zwei Gesetzentwürfe, mit denen die Bundesregierung der Einführung von Mindestlöhnen ab Januar 2009 den Weg ebnen möchte: die Neufassung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ( 16/10486) und die Änderung des Mindestarbeitsbedingungsgesetz ( 16/10485).
Wenn es nach Harald Olschok geht, ist es höchste Zeit, die Branche der Sicherheitsdienstleistungen in das AEntG aufzunehmen. "Bei der Einführung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit im Jahr 2009 oder spätestens 2011 droht ohne die Aufnahme in das AEntG ein massiver Verlust an Arbeitsplätzen", sagte er. Schon heute würden die Stundenlöhne der Branche in Polen teilweise bei 1,50 Euro liegen. "Wir wollen unsere Unternehmen und vor allem deren Beschäftigte mit absichern."
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) bietet einen Rahmen, um tarifliche Mindestlöhne für alle Arbeitnehmer einer Branche mit einer Tarifbindung von mindestens 50 Prozent verbindlich zu machen. Ob der Arbeitgeber seinen Sitz im In- oder Ausland hat, spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie der Umstand, ob der Arbeitsort im In- oder Ausland liegt. Neben den bereits im AEntG enthaltenen drei Branchen (Bauhauptgewerbe, Gebäudereinigung, Briefdienstleistungen) haben bisher acht weitere Branchen den Antrag um Aufnahme gestellt, darunter die ambulante und stationäre Altenpflege, die textilen Dienstleistungen und die Zeitarbeit.
Roland Wolf von der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) äußerte allerdings erhebliche Bedenken, ob die Vorhaben der Regierung tatsächlich auch dazu dienen, Arbeitsplätze zu sichern. "Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird nicht das Ergebnis dieser Gesetze sein", sagte er. Kritik äußerte die BDA aber vor allem deshalb, weil sie sowohl das Arbeitnehmer-Entsendegesetz als auch das Mindestarbeitsbedingungsgesetz (MiArbG) als "verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Eingriffe in die Tarifautonomie" betrachtet. Letzteres fungiert als eine Art Ergänzung zum AEntG, da es die Möglichkeit schafft, explizit auch für Branchen mit einer geringen Tarifbindung (unter 50 Prozent) oder ohne tarifliche Regelungen Mindestentgelte festzulegen.
Zwar galt Deutschland lange als ein Land mit einer geringen Lohnspreizung. Aus Forschungen der Universität Duisburg-Essen geht jedoch hervor, dass sich der Niedriglohnsektor stark vergrößert hat, von 15 Prozent im Jahr 1995 auf 22 Prozent im Jahr 2006. Und vor allem, vor diesem Hintergrund ist die Neufassung des MiArbG auch zu sehen, ist die Tarifbindung deutlich gesunken. So unterlagen im vergangenen Jahr in der Privatwirtschaft nur noch 52 Prozent der westdeutschen und nur 33 Prozent der ostdeutschen Betriebe einem Branchentarifvertrag. Fast zwei Millionen Beschäftigte arbeiteten im Jahr 2006 für Stundenlöhne unter 5 Euro. Die Zahl der so genannten Aufstocker, also jene Beschäftigte, die ihren Lohn mit Arbeitslosengeld II ergänzen müssen, betrug 1,3 Millionen.
In der Expertenanhörung wurden solche Dumpinglöhne einhellig verurteilt und die beiden Gesetzesvorhaben grundsätzlich als ein Schritt in die richtige Richtung begrüßt. Dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehen die Pläne jedoch nicht weit genug. "Wir brauchen dringend die Aufnahme aller Branchen in das AEntG. Außerdem muss ein gesetzlicher Mindestlohn von 7,50 pro Stunde eingeführt werden", sagte DGB-Vertreter Reinhard Dombre. Unterstützt wurde er von Claudia Weinkopf, stellvertretende Direktorin des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen: "Branchenspezifische Mindestlöhne reichen nicht aus, um den sozialen Schutz von Arbeitnehmern nachhaltig zu verbessern." Es würde ein "Flickenteppich" aus unterschiedlich hohen Lohnuntergrenzen entstehen, sagte Weinkopf. "Branchenspezifische Mindestlöhne müssen deshalb durch eine allgemein verbindliche Lohnuntergrenze flankiert werden, die nicht unterschritten werden darf."
Die Theologin Ursula Nothelle-Wildfeuer von der Universität Freiburg betonte dagegen die Verantwortung der Tarifparteien und die Bedeutung der Tarifautonomie. Letztere sei aus sozial-ethischer Perspektive "ganz wichtig", da durch die Lohnfindung ein entscheidender Beitrag zum Gemeinwohl und zur Stabilisierung der Gesellschaft geleistet werde. "Die Tarifparteien dürfen sich nicht aus der Verantwortung entziehen, indem sie auf den staatlichen Mindestlohn setzen. Ihnen darf die Lohnfindung als Aufgabe nicht abgesprochen werden, solange sie dazu in der Lage sind."
Thorsten Schulten von der Hans-Böckler-Stiftung kritisierte: "Beim Mindestarbeitsbedingungsgesetz liegen überhaupt keine inhaltlichen Kriterien vor für das, was überhaupt so etwas wie einen angemessenen Lohn ausmacht." Da würde man am Ende wieder bei der Sittenwidrigkeit und damit bei sehr niedrigen Löhnen enden. Auch er forderte deshalb, ergänzend zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.