Antisemitismus
Bundestag setzt ein deutliches Zeichen. Elf Linksparlamentarier verweigern der Resolution die Zustimmung
Wie ich mir jüdisches Leben in Deutschland wünsche? Quicklebendig und inhaltsvoll." Der jüdische Historiker Michael Wolffsohn beantwortet die Frage schnell. Für ihn ist es selbstverständlich, dass heute wieder Juden in Deutschland leben, die stolz auf ihr Land sind - trotz dessen Vergangenheit. Selbstverständlich ist diese Haltung nicht: Vor 70 Jahren brannten in Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte. Viele hundert Menschen verloren ihr Leben, zehntausende Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt. Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde zum Symbol für den Übergang von der staatlichen Verfolgung der Juden hin zu ihrer systematischen Vernichtung. Damit, dass es einmal wieder jüdisches Leben in Deutschland geben würde, hat lange Zeit niemand gerechnet.
Deshalb hören viele Menschen auch genau hin, wenn sich der Bundestag wie am 4. November dazu verpflichtet, "jeder Form des Judenhasses und des Antisemitismus schon im Entstehen in aller Konsequenz entschlossen zu begegnen". Das Parlament setzt sich für ein Expertengremium ein, das regelmäßig Berichte zum Antisemitismus in Deutschland erstellt und Empfehlungen zu dessen Bekämpfung gibt. Außerdem werben die Abgeordneten dafür, die Schullehrpläne um Themen zur jüdischen Geschichte und zum heutigen Israel zu ergänzen.
Bereits vor der Plenardebatte war der Parteienstreit zu dem Antisemitismusantrag, etwa vom Zentralrat der Juden, kritisiert worden. Da die Union die fraktionsübergreifende Resolution ( 16/10775) nicht gemeinsam mit der Linksfraktion einbringen wollte, legte diese einen zweiten wortgleichen Antrag ( 16/10776) vor. In einer gemeinsamen Abstimmung nahm der Bundestag die Resolution mit überwältigender Mehrheit an; mit einer Gegenstimme des fraktionslosen Ex-CDU-Politikers Henry Nitzsche und bei Enthaltung von elf Linksparlamentariern, darunter die innen- und die migrationspolitischen Sprecherinnen Ulla Jelpke und Sevim Dagdelen sowie die außen- und europapolitischen Sprecher Norman Paech und Dieter Dehm. Sie gaben eine Erklärung zu Protokoll, in der sie der Resolution eine "undemokratische und anmaßende Tendenz" bescheinigten. Sie versuche, diejenigen "als antisemitisch und antiamerikanisch zu diskreditieren, die Kritik an der Kriegspolitik von Nato, USA und Israel äußern".
Für den CSU-Innenexperten Hans-Peter Uhl ist diese Erklärung ein weiterer Beweis für seine Überzeugung. Schon in der Debatte hatte er der Linksfraktion vorgeworfen, Antisemiten in ihren Reihen zu dulden. Die überzogene Israel-Kritik, die antisemitische Klischees bediene, sei "inakzeptabel". Im Gespräch mit "Das Parlament" bekräftigt er: "Die Reaktionen zeigen, dass wir damit ins Schwarze getroffen haben." Die Kritik, die er geerntet habe, sei darauf zurückzuführen, dass die Union sich gegen die Vorstellung wende, Antisemitismus komme immer von rechts. "Aber das Thema betrifft nicht nur rechtsextremistisch und rassistisch veranlagte Nazis", betonte Uhl.
"Kleinliches Parteiengezänk" nannte der FDP-Extremismusexperte Christian Ahrendt die Haltung der Union in der Plenardebatte. Der SPD-Abgeordnete Gert Weisskirchen, einer der Antragsinitiatoren, warnte, beim Thema Antisemitismus "mit dem Finger auf andere zu zeigen; denn immer wenn man mit einem Finger auf andere zeigt, weisen drei Finger auf einen selbst zurück". Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau wies für Die Linke darauf hin, das NS-Regime sei deshalb an die Macht gekommen, weil die Demokraten in zentralen Fragen zerstritten und deshalb schwach gewesen seien: "Ich wünschte, alle hätten diese Lektion gelernt." Die elf Verweigerer bringen ihre Fraktion allerdings in Nöte - weder Pau noch Fraktionschef Gregor Gysi war es gelungen, sie umzustimmen. Bei den anderen Fraktionen sorgte das ebenso für Empörung wie beim Zentralrat der Juden. Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Salomon Korn, zeigt sich in "Das Parlament" enttäuscht von der Reaktion der elf Linksabweichler, die "das alte DDR-Feinbild gegenüber Israel" bedienten. "Dabei werden ganz unterschiedliche Maßstäbe an das Verhalten Israels und das der Palästinenser und der Hisbollah angelegt. Das ist unerträglich", betont Korn. Die Linke müsse nun klären, ob sie dem Weg "vernünftiger Leute wie Pau und Gysi" folge oder in alte Reflexe verfalle.
Die Direktorin des Berliner Büros des American Jewish Committee (AJC), Deidre Berger, hofft unterdessen, dass die Expertenkommission bald ihre Arbeit aufnimmt. Von dem Gremium verspreche sie sich "wichtige Impulse" für die Arbeit gegen Antisemitismus - auch wenn sie es für einen Fehler halte, dass es keinen Bundesbeauftragten geben soll. "Jemand muss die Leitung des Gremiums übernehmen, die Projekte koordinieren und bei strittigen Punkten entscheiden. Ich hoffe, dass man doch noch einen solchen Posten schaffen wird", sagte sie dieser Zeitung. Diese Hoffnung teilt Gert Weisskirchen: "Der Verzicht auf einen Bundesbeauftragten muss ja nicht für alle Ewigkeiten gelten", unterstrich der OSZE-Antisemitismus-Beauftragte. Sein Koalitionspartner Uhl ist da anderer Meinung: "Das wird es auf keinen Fall geben. Das Thema ist nicht zu bewältigen, in dem wir eine Person mit Büro, Türschild und Dienstwagen ausstatten." Entscheidend sei die Auswahl der Experten. Bei der Besetzung des Gremiums denke er an die Fachleute, die bereits bei der Antisemitismus-Anhörung des Bundestags zu Wort gekommen seien - etwa der Publizist Henryk M. Broder. Der allerdings lehnt dankend ab: Es sei sein Job, über andere zu schreiben und nicht "selbst Futter zu liefern", sagte Broder.
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