Roter Filz umhüllt die Kugeln, geschmückt sind sie mit einzeln aufgeklebten goldenen Pailletten. Der weihnachtliche Schmuck wurde von behinderten Menschen hergestellt und hängt am Weihnachtsbaum im Ostfoyer des Reichstages. Seit vielen Jahren übergibt die "Lebenshilfe", ein Verband der Behindertenhilfe, dem Bundestag zu Beginn der Adventszeit eine festlich geschmückte Tanne. Während der letzten hektischen Sitzungswochen des Jahres soll sie eine besinnliche Stimmung verbreiten - und die Abgeordneten an die Belange behinderter Menschen erinnern.
Gebastelt wird der Weihnachtsschmuck jedes Jahr in einer anderen Werkstatt, dieses Jahr im Förderzentrum der Lebenshilfe im unterfränkischen Hassberge. Kugeln und Sterne haben einen langen Weg bis nach Berlin zurückgelegt - genau wie die vier Jugendlichen, die mit ihren Betreuern Ende November zur offiziellen Baum-Übergabe nach Berlin gekommen sind.
Mit dabei sind die 17-jährige Jemima Denk und der 16-jährige Miguel Sereda. Beide sind etwas aufgeregt, bevor sie die versammelten Parlamentarier begrüßen und den Weihnachtsbaum auch offiziell dem Bundestag übergeben. Danach lächeln sie erleichtert, sie freuen sich darauf, von der Reichstagskuppel noch einen Blick auf das abendliche Berlin zu werfen. Beide sind das erste Mal in der Hauptstadt. Währenddessen will Robert Antretter nicht nur Wohlfühl-Stimmung verbreiten, sondern bei den Abgeordneten für die Anliegen behinderter Menschen werben. Antretter saß selber fünf Wahlperioden lang für die SPD im Parlament, bevor er im Jahr 2000 den Vorsitz des Bundesverbandes der Lebenshilfe übernahm. Er begrüße die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag am 4. Dezember, sagt er, und fordert ihre rasche Umsetzung. Die Bedenken insbesondere von Wirtschaftsverbänden, die Bürokratie und hohe Kosten fürchten, hält er für übertrieben. Die Konvention soll die Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen garantieren.
Wobei viele schon den Ausdruck "Behinderte" für unglücklich halten. So auch Bundestagspräsident Norbert Lammert. "Ich kenne keinen Menschen ohne Behinderungen", betont er. "Auch ich habe unterschiedliche, und ich bin froh, dass ich sie an dieser Stelle nicht aufzählen muss." Die Vorstellung, "die Welt bestünde aus Universalgenies und einigen wenigen Bedauernswerten mit Behinderungen, stellt die Welt auf groteske Weise auf den Kopf".
Die Übergabe des Lebenshilfe-Weihnachtsbaumes läute für viele Parlamentarier den Beginn der Adventszeit ein, erzählt Lammert - und sei darüber hinaus "eine besonders pfiffige und liebenswerte Lösung" der Lebenshilfe, sich bei den Parlamentariern in Erinnerung zu bringen. Eine feste Größe bei der jährlichen Feier sind die "Sirenen aus Mitte". Der Name des Berliner Lebenshilfe-Chores beschwört sowohl den Gesang mythischer Fabelwesen als auch das Geheul Berliner Polizeiwagen herauf - doch die Mischung aus traditionellen Weihnachtsliedern und amerikanischen Gospeln ist harmonisch und bringt sogar manchen anwesenden Abgeordneten zum Mitwippen.
Zehn Jahre ist es her, dass Chorleiterin Petra Liesenfeld die "Sirenen aus Mitte" aus der Taufe hob. Eher zufällig übernahm sie die Aufgabe, behinderte Menschen zum Singen zu bringen und erlebt seitdem "mehr als bei jedem anderen Chor direkte Emotionen": Es werde "viel gelacht und viel geweint". Dabei ist es Liesenfeld durchaus wichtig, ihre Chormitglieder zu fordern: "Am Anfang konnte man manchmal kaum erkennen, um welches Stück es sich handelt. Inzwischen singen wir Choräle von Bach." Perfektionismus ist trotzdem nicht ihr Ziel. Und wenn die Chormitglieder beim Auftritt die einzelnen Lieder ansagen, passieren auch mal charmante Versprecher: So bringt eine Sängerin vor dem Mikrofon vor lauter Aufregung nur ein "Oh je!" heraus. Doch als der Chor dann "Oh Jesulein zart, Dein Kripplein ist hart" anstimmt, stimmt auch sie lächelnd mit ein.