Lebensweg
Am 23. Dezember 1918 wurde Helmut Schmidt geboren. Heute gehört der Altkanzler zu den beliebtesten Persönlichkeiten Deutschlands.
Was gibt es über Helmut Schmidt zu sagen, was in den vergangenen Wochen noch nicht geäußert worden wäre? Was lässt sich über den Altkanzler schreiben, was noch nicht zu Papier gebracht worden wäre? Was lässt sich über das Geburtstagskind senden, was noch nicht über die Fernsehbildschirme geflimmert wäre?
Eine andere Möglichkeit der Annäherung an den Politiker und Menschen - letzteres ist nicht einfach, da Schmidt über Politik zwar gerne und viel, über sein Innen- und Privatleben hingegen nur selten und höchst widerwillig spricht - bieten die Fotografien von Jupp Darchinger. Abgesegnet ist diese Annäherung allemal, denn für Schmidt ist Darchinger "einfach der Beste". Andere nennen ihn auch das "fotografische Gedächtnis der Bonner Republik". Rund 1,5 Millionen Bilder soll der Fotojournalist während seines rund 50-jährigen Schaffens geschossen haben.
Der Band "Helmut Schmidt. Fotografiert von Jupp Darchinger" dokumentiert mit rund 600 schwarz-weiß Fotografien den Werdegang des Sozialdemokraten: angefangen bei seinem erstmaligen Einzug in den Bundestag im Jahr 1953 und seiner Zeit als Hamburger Innensenator (1961-1965) über seine Jahre als SPD-Fraktionsvorsitzender (1966-1969) in der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und als Verteidigungs-, Wirtschafts- und Finanzminister in der sozial-liberalen Koalition unter Kanzler Willy Brandt (1969-1974) bis hin zu seiner eigenen Kanzlerschaft (1974-1982) und den sich anschließenden Rollen als "Zeit"-Mitherausgeber, Publizist und Elder Statesman.
Darchingers Fotografien zeigen die unterschiedlichen Facetten des Politikers und Menschen: den Redner im Bundestag und auf Partei- und Wahlkampfveranstaltungen, den Staatsmann im Kreis der Großen seiner Zeit, den Machtmensch, den Humorvollen wie den Nachdenklichen, den Schroffen wie den Sanften, den Privatmann beim Segeln, mit seiner Ehefrau Loki, beim Rasenmähen, beim Einkauf im Baumarkt, mit Pfeife, Zigarette oder Schnupftabak, mit und ohne "Prinz-Heinrich"-Mütze.
Die Fotografien lösen beim Betrachter jene Gefühle aus, die so viele Deutsche dem Altkanzler entgegenbringen: Respekt, Bewunderung und auch Zuneigung. Doch warum ist das so? Und warum werden seine Meinung und sein Rat bis heute so gerne abgefragt? Schließlich gab sich Schmidt auch unnahbar, abweisend, hanseatisch kühl - um nicht zu sagen arrogant. Und seine Umgebung konnte er auch gerne mal unbarmherzig verbal abbügeln. "Der frechste Lümmel des Hauses", so ein Zwischenrufer im Bundestag, und "Schmidt Schnauze" war nicht nur bei seinen politischen Gegnern gefürchtet. Auch seine Weggefährten in der eigenen Partei und Journalisten, die er als "Wegelagerer" anraunzte, können ein Lied davon singen.
Ein Blick auf die aktuelle politische Agenda bietet einen guten Ansatz für Antworten: Finanz- und Wirtschaftskrise, Terrorismus und ein drohender neuer Kalter Krieg sind Schlagworte, die Helmut Schmidt aus seiner Zeit als Minister und Kanzler mehr als nur vertraut sind. Durch die Öl-, Finanz- und Wirtschaftskrisen der 70er Jahre musste auch er Deutschland navigieren, musste den gewaltsamen Herausforderungen durch die Terroristen der "Rote-Armee-Fraktion" und ihrer palästinensischen Verbündeten trotzen, musste einen Mittelweg zwischen Entspannung und sicherheitspolitischer Standhaftigkeit, wie er sie beim Nato-Doppelbeschluss bewies, im "alten" Kalten Krieg finden. Schmidt hat sich seinen guten Ruf - wenn auch nicht ausschließlich - in den Stunden der Krise erworben. Bezeichnungen wie "Macher", "Krisenmanager" und "Eiserner Kanzler" zeugen davon. Er war für viele Deutsche wohl eine Art realpolitisches Spiegelbild zu Theodor Fontanes "John Maynard" - der Steuermann, der das Schiff in Not ans rettende Ufer bringt.
Wer all dies genauer nachlesen möchte, dem seien zwei Biografien empfohlen, die in Stil, Umfang und Machart zwar höchst unterschiedlich ausgefallen sind, aber beide von großer Kenntnis Schmidts und seiner Zeit künden. Da ist zum einen die flott und unterhaltsam zu lesende Darstellung des Journalisten Hans-Joachim Noack, langjähriger Politikchef des "Spiegels", und zum anderen das wissenschaftliche Werk des Heidelberger Historikers Hartmut Soell.
Noack zeichnet ein differenziertes Bild des Politikers Schmidt, mit seinen Ecken und Kanten. Er tut dies nicht nur aus der Sicht des professionellen Journalisten, der Schmidt in der Zeit der Großen Koalition erstmals interviewen konnte, sondern auch aus einem sehr persönlichen Blickwinkel - mehrfach maß er sich mit Schmidt in diversen Schachpartien. Sein Buch liefert zudem einen guten Einblick, welch ambivalentes Verhältnis gerade die jüngere Linken zu dem Sozialdemokraten hatte: "Vor allem dass der alerte Genosse die heiß umstrittenen Notstandsgesetze durchpaukte, hielt ich empört für einen obrigkeitsstaatlichen Amoklauf, und als er am 16. Mai 1974 gar den in meinen Kreisen angehimmelten Kanzler Willy Brandt ablöste, war das unsereins fast wie ein Volkstrauertag", gesteht Noack ein. Andererseits imponierte ihm die "zupackende Art", mit der sich Schmidt 1962 als Hamburger Innensenator gegen die verheerende Flutkatastrophe in seiner Heimatstadt stemmte. Und er bewunderte "seine Fähigkeit, sich in außerordentliche Problemstellungen hineinzudenken". Seine "moralischen Vorbehalte" legte Noack aber erst im so genannten Deutschen Herbst ab: "Wie er in der schwierigen Zeit seiner Kanzlerschaft 1977 beim Kampf gegen den Terror der ,Roten-Armee-Fraktion' leise einräumte, selber Schuld auf sich geladen zu haben, als er den entführten Wirtschaftsmagnaten Hanns Martin Schleyer opferte, bewies mir sein Format. Helmut Schmidt, nach seinem Triumph über die RAF bald ,Held von Mogadischu', war offenbar weit mehr als nur der viel zitierte ,Macher'."
Während sich Noack trotz der kompakten Darstellung der politischen Geschehnisse mit seiner Biografie deutlich um ein Charakterbild des Menschen hinter dem Politiker bemüht, liefert Hartmut Soell dann doch eher die klassische, wissenschaftliche Arbeit, die sich an den harten Fakten der Geschichte orientiert. Soell hatte bereits im Jahr 2003 pünktlich zu Schmidts 85. Geburtstag den viel gelobten ersten Band - "Vernunft und Leidenschaft" - seiner Biografie vorlegt, in dem er Schmidts Kindheit und Jugend sowie die Zeit als junger Offizier im Zweiten Weltkrieg und seinen politischen Aufstieg in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nachzeichnete. Ebenso pünktlich zum 90. Geburtstag vollendete er nun mit dem zweiten Band "Macht und Verantwortung" sein wahrhaft monumentales Werk. Auf rund 1.000 Seiten führt Soell seine Leser auf den Spuren Schmidts - beginnend mit seiner Ernennung zum Verteidigungsminister bis ins Jahr 2008.
Soells Schmidt-Biografie ist das Werk des akribisch arbeitenden Historikers. Und dass es ihm gelingt, trotz Faktenfülle und all der Details dabei nicht zu langweilen, ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Soell hat genau wie Hans-Joachim Noack den unschätzbaren Vorteil, dass er sein Bild von Schmidt und dessen Politik nicht allein aus den umfangreichen Beständen der Archive, aus Akten, Dokumenten, Sekundärliteratur, Zeitungsartikeln und Erzählungen rekonstruieren muss. Auch er kennt Schmidt aus nächster Nähe und eigener Erfahrung. Er war mehrere Jahre einer seiner Mitarbeiter, als Schmidt die SPD-Fraktion im Bundestag führte und blickt selbst auf eine langjährige parlamentarische Tätigkeit zurück. Von 1980 bis 1994 war er Bundestagsabgeordneter für die Sozialdemokraten. Dieser Nähe sollte sich der Leser bewusst sein. Doch ein unredliches Maß an Distanz- oder Kritiklosigkeit muss Soell sich nicht nachsagen lassen. Von den eigenen Erfahrungen im Innenleben der deutschen Politik hat seine Biografie jedenfalls profitiert.
Wenn die Lektüre überhaupt etwas vermissen lässt, dann wäre es eine etwas tiefer gehende Charakterisierung Schmidts, auf die er aber bewusst verzichtet hat. Statt dessen bringt er dessen politisches Wirken auf einen knappen und einfachen Nenner: "Die Schrecken der Vergangenheit zu bannen, die eigenen Landsleute vor neuen Versuchungen zu bewahren und ,das ganze Land in guter Verfassung' zu halten - das ist das Leitmotiv Schmidts seit über sechzig Jahren." Dass er seinen Lesern damit letztlich in verkürzter Form jenes Leitmotiv präsentiert, das der Altkanzler in seiner kürzlich erschienenen Bilanz "Außer Dienst" selbst formulierte, darf man Soell nachsehen. Falsch ist seine Einschätzung jedenfalls nicht.
Im Kern treffen sich Noack und Soell in ihren Bewertungen von Helmut Schmidt und seiner Politik. Es sind aber auch Unterschiede zu vernehmen. So kommt der Machtmensch Schmidt bei Noack doch deutlicher zum Vorschein als bei Soell, bei dem Schmidts Karriere stellenweise als reines Pflichtprogramm erscheint, dem sich der Politiker unterwarf. Dies ist insofern interessant, da Schmidt einräumt, dass er entgegen früherer Aussagen, seine Ämter unbewusst "vielleicht doch gewollt" habe. Aber eher im Sinne eines Sportlers oder Künstlers, der "Anerkennung durch Leistung sucht". Diese Anerkennung hat er schließlich auch gefunden.
Helmut Schmidt. Fotografiert von Jupp Darchinger.
Dietz Verlag, Bonn 2008; 431 S., 34 ¤
Helmut Schmidt. Die Biographie.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2008; 317 S., 19,90 ¤
Helmut Schmidt. Macht und Verantwortung. 1969 bis heute.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008; 1082 S., 39,95 ¤
Außer Dienst. Eine Bilanz.
Siedler Verlag, München 2008; 350 S., 22,95 ¤