NATO
Die Balance zwischen Amerika und den europäischen Partnern muss neu austariert werden
Sechzig Jahre wird die Nato in diesem Jahr. Sechzig Jahre Nato, das bedeutet: sechzig Jahre Frieden in Europa, das Ende kommunistischer Zwangsherrschaft über Osteuropa, den Zerfall der Sowjetunion und, last not least, die Wiedervereinigung Deutschlands. Es sind sechzig Jahre, für die man in Europas Geschichte keine Parallele findet. Seit dem 30jährigen Krieg (1618 bis 1648) hat der alte Kontinent keine Zeitspanne von sechs Jahrzehnten durchlebt, die frei von Krieg und Not gewesen wäre.
Was aber ist das Besondere an der neuen Wirklichkeit, die hinter den vier Buchstaben N,A,T,O (North Atlantic Treaty Organiza- tion - Nordatlantikvertrag-Organisation) steht? Es ist die Anwesenheit Amerikas in Europa; nicht nur militärisch mit Truppen, sondern politisch. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem sich die Amerikaner für eine Politik der "splendid isolation" entschieden und mit dem Rückzug ihrer Soldaten vom alten Kontinent ganz bewusst auf jeden politischen Einfluss auf seine Entwicklung verzichteten, trafen sie nach dem Zweiten Weltkrieg genau die entgegengesetzte Entscheidung. Schon 1945, nach der deutschen Kapitulation, übernahm Washington im Juni 1945 mit der Berliner Erklärung Verantwortung für Deutschland als Ganzes, indem es gemeinsam mit den drei anderen Siegermächten an die Stelle des deutschen Souveräns trat. Das genügte aber, wie sich bald zeigen sollte, nicht zur Stabilisierung Europas.
Als sich mit der Blockade West-Berlins der Kalte Krieg ankündigte, sahen sich die Amerikaner vor die Entscheidung gestellt, Westeuropa seinem Schicksal - und das bedeutete damals Josef Stalin - zu überlassen, oder nach dem 1945 erfolgten radikalen Abbau ihrer konventionellen Streitkräfte abermals aufzurüsten und das Risiko eines Krieges gegen die Sowjetunion einzugehen. Amerikas Entscheidung, die eigenen Machtmittel für den Schutz Westeuropas vor Stalins Armeen einzusetzen, haben dem alten Kontinent die Freiheit gerettet. Diese Entscheidung fand ihren Niederschlag in der Gründung der Nato. Dabei war die Nato nicht nur eine militärische Antwort auf Stalins Politik. Sie wirkte auch als ein politisches Stützkorsett für ihre europäischen Mitglieder, das sie davor bewahrte, in alte Fehler zurückzufallen und durch interne Rivalitäten die politische Geschlossenheit des Westens zu unterminieren.
Als die USA, Kanada und Großbritannien im Frühjahr 1948 eine erste militärische Lagebeurteilung vornahmen, kamen sie zu einem niederschmetternden Ergebnis. Die Sowjetunion hatte die Mittel, um Westeuropa innerhalb von zwei Monaten vollständig zu erobern. In dieser prekären Situation entschlossen sich die Amerikaner, das Risiko eines Krieges mit der Sowjetunion einzugehen und Westeuropa zu schützen. Das Ergebnis dieser Entscheidung war die Unterzeichnung des Nato-Vertrags am 4. April 1949.
Seither hat die Nato viele Wandlungen durchlaufen. Zu den zwölf Gründungsmitgliedern kamen bis 1990 vier weitere hinzu, inzwischen ist die Zahl der Nato-Mitgliedstaaten auf 26 angewachsen - und wo das Ende liegt, ist offen. Wichtig war für das Bündnis wie für Deutschland der Beitritt der Bundesrepublik im Jahre 1955. Erst der deutsche Verteidigungsbeitrag von 490.000 Mann versetzte die Nato in die Lage, sich auf eine Verteidigung mit konventionellen Mitteln einzulassen, statt sofort mit Atomwaffen reagieren zu müssen. Die Nato "siegte" aber nicht mit Waffengewalt, sondern durch konsequentes politisches Handeln: Mit der Durchsetzung ihres Doppelbeschlusses schuf sie die Voraussetzung für die Bereitschaft Moskaus zur Abrüstung. Gorbatschow und Reagan sei Dank.
All das ist ferne Vergangenheit. Mit dem Ende der Sowjetunion kam eine neue Herausforderung auf die Nato zu: Die Stabilisierung Europas, insbesondere der Staaten, die bislang Zwangsverbündete Moskaus gewesen waren und die nun den Anschluss an den Westen suchten. Das galt auch für ehemalige, unabhängig gewordene Sowjetrepubliken; insbesondere für Estland, Lettland und Litauen. Es galt auch für die in Bürgerkriege verstrickten Völker des einstigen Jugoslawien. Sie zwangen der Allianz die Entscheidung auf, den Massakern zwischen Serben, Kroaten und Bosniern tatenlos zuzusehen oder sie mit Waffengewalt zu verhindern - und zwar in eigener Verantwortung. Die Nato entschied sich für letzteres und bombardierte Serbien, um ein Ende des Mordens im Kosovo zu erzwingen.
Dies war ein tiefer Einschnitt für die Nato, denn ihre Intervention entsprach nicht dem Gründungszweck der Allianz, der kollektiven Selbstverteidigung. Erstmals trat sie als Ordnungsfaktor außerhalb ihres Bündnisgebietes auf. Auf dem Gipfeltreffen in Washington im April 1999 verständigte sie sich deshalb auf ein neues strategisches Konzept, mit dem sie ihrem veränderten Selbstverständnis und der veränderten Wirklichkeit gerecht zu werden versuchte. Das Bündnis nahm für sich die Aufgabe der Krisenverhinderung (peacekeeping) und der Krisenbewältigung (peacemaking) in Anspruch und zwar nicht nur innerhalb des Nato-Vertragsgebietes, sondern auch andernorts, oder "out of area", wie es in der Nato heißt; und das, wenn nötig, auch ohne dafür von den Vereinten Nationen ein Mandat erhalten zu haben.
Es ist bis heute die Grundlage für Entscheidungen und Handlungen der Nato geblieben und hat es ihr ermöglicht, nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 die Leitung der Isaf-Operation in Afghanistan zu übernehmen - wenn auch mit mehrjähriger Verzögerung. Sie ist die Folge schwerwiegender interner Spannungen und Divergenzen. Diese haben sich unter Präsident Bush jr. zwischen Amerika und seinen europäischen Verbündeten erheblich verstärkt. So drang Bush 2001 zwar darauf, dass die Nato den Bündnisfall feststellte, überging die Allianz aber bei der Planung und Durchführung des Afghanistankriegs. Statt sich der Abstimmung mit den Verbündeten zu unterziehen, ignorierte er sie und zog es vor, sich im Alleingang auf eine "coalition of the willing" abzustützen, also auf Länder, die bereit waren, sich ungefragt dem amerikanischen Willen unterzuordnen.
Der interne Konflikt, der unter Bush zu einer Krise wurde, hat aber einen sachlichen Kern: Amerika ist eine Weltmacht und seine Interessen sind weltweiter Natur. Seine europäischen Verbündeten sind bestenfalls Mittelmächte. Ihre Interessen sind zwar nicht ausschließlich regionaler Art, haben aber einen eurozentrischen Schwerpunkt. Das war ein beherrschbares Problem, so lange die Nato auf den Schutz Westeuropas vor Moskau konzentriert war. Unter den Bedingungen einer globalisierten Politik und potenziell weltweiter terroristischer Bedrohung ist ein Interessenausgleich schwieriger geworden. Das zeigt sich nicht nur in Afghanistan, sondern auch in der Frage einer Fortsetzung der Nato-Erweiterung und der Aufnahme von Georgien und der Ukraine in das Bündnis, wie sie von Washington betrieben wird - trotz der Vorbehalte wichtiger Verbündeter wie Deutschland. 1999 wurde in Washington jene strategische Konzeption verabschiedet, die es dem Bündnis ermöglicht hat, mit den Herausforderungen der vergangenen zehn Jahre fertig zu werden. Auf dem Gipfeltreffen, das zum 60jährigen Bestehen des Bündnisses im April in Straßburg und in Baden-Baden stattfinden wird, ist eine neue Herausforderung zu meistern. Es geht darum, die Nato, die der Kern dessen ist, was gemeinhin "der Westen" genannt wird, zu befähigen, geschlossen und handlungsfähig zu bleiben. Dazu muss die Balance zwischen den globalen Interessen Amerikas und den regionalen seiner europäischen Partner neu austariert werden.