KOSOVO
Der junge Staat kämpft um Anerkennung und Integration von Minderheiten
Die eigentliche Geburtsstunde des jüngsten Staates der Welt schlug an einem kalten Wintertag vor drei Jahren. Es war Donnerstag, der 26. Januar 2006. Wer sich in jenen Tagen in Prishtina aufhielt, wird die feierliche, aber von leiser Angst und unausgesprochenen Befürchtungen begleitete Atmosphäre nicht vergessen, die damals in der kosovarischen Hauptstadt herrschte. Ibrahim Rugova, der legendäre Präsident des Kosovos, der vermeintlich chancenlose, letztlich aber doch erfolgreiche Gegenspieler des übermächtigen Serbenherrschers Slobodan Milosevic, war gestorben. Am 26. Januar sollte seine Beerdigung stattfinden. Unter ausländischen Diplomaten und Politikern herrschte die Befürchtung, der Machtkampf um seine Nachfolge könne das Kosovo destabilisieren - mitten in der kritischen Phase, als die Loslösung des Gebietes von Serbien vorbereitet wurde.
Daher klangen viele Äußerungen internationaler Spitzenpolitiker zum Tode des Albanerführers wie Mahnungen an alle potenziellen Nachfolger, Ruhe und Ordnung zu bewahren. Rugovas Bekenntnis zu Gewaltfreiheit und Demokratie sei "Auftrag und Vermächtnis für all jene, die im Kosovo politische Verantwortung tragen", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die damalige amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice teilte mit, Rugova habe den Respekt der Welt dafür verdient, dass er sich zum "Anwalt von Demokratie und Frieden" gemacht habe. Doch die Befürchtungen, es werde im Kosovo zu blutigen Diadochenkämpfen kommen, waren bald entkräftet: Rugovas Beerdigungsfeier ging würdevoll vonstatten, die Kosovo-Albaner inszenierten es als Staatsbegräbnis ohne Staat. Ein Nachfolger, der heutige Präsident Fatmir Sejdiu, wurde auf friedlichem Wege gefunden, weil die Elite in Prishtina ihre Machtkämpfe strikt dem Ziel der Unabhängigkeit unterordnete. Wer noch Zweifel daran hatte, dass alle albanischen Politiker im Kosovo nach staatlicher Selbständigkeit für ihre Heimat strebten und diesem Ziel vorübergehend sogar ihre persönlichen Machtgelüste unterordneten, sah sich spätestens in jenen Tagen eines Besseren belehrt.
Fast genau zwei Jahre und einen Monat nach dem Tode Rugovas war der Tag dann gekommen: Am 17. Februar 2008 proklamierte das kosovarische Parlament in Prishtina die staatliche Unabhängigkeit. Doch auch wenn die Euphorie darüber keineswegs verflogen ist, hat der kosovarische Staat am Beginn des zweiten Jahres seiner Existenz längst die Mühen der Ebene kennen gelernt: Erst 54 von 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben das Kosovo anerkannt, was zwar nicht wenig, aber bei weitem nicht so viel ist, wie sich die noch unerfahrene kosovarische Diplomatie und der Außenminister Skender Hyseni für das erste Jahr erhofft hatten. Schwerer wiegt der Umstand, dass dem Kosovo die Mitgliedschaft in vielen internationalen Organisationen (etwa bei den Vereinten Nationen) verwehrt bleibt, da Russland sein Veto gegen eine Aufnahme einlegt.
Die sich daraus ergebende Isoliertheit hat keineswegs nur abstrakte politische Folgen. Sie wirkt sich direkt auf das Alltagsleben der Kosovaren aus, etwa durch das Fehlen einer internationalen Telefonvorwahl für das Kosovo. Festnetzanschlüsse sind nur über die alte serbische Vorwahl zu erreichen, und wer ein "kosovarisches" Mobiltelefon anrufen will, muss vorweg entweder die 377 (für Monaco) oder die 386 (für Slowenien) wählen. Diese Vorwahlen haben sich die Netzbetreiber im Kosovo "ausgeliehen", bis das Land einen eigenen Code bekommt - aber wann das völkerrechtlich möglich sein wird, steht in den Sternen. Solcherlei Beeinträchtigungen gibt es zuhauf im Alltag des neuen Staates.
Auch den ersten wichtigen Test für sein junges demokratisches System, die Wahl eines Parlaments, muss das Kosovo erst noch bestehen. Das derzeitige Parlament, dessen Abgeordnete die Unabhängigkeit proklamierten, wurde im November 2007 gewählt, als das Kosovo völkerrechtlich noch eine Provinz Serbiens war und von einer Mission der Vereinten Nationen (Unmik) verwaltet wurde. Da der UN-Sicherheitsrat aufgrund des russischen Widerstands kein Mandat zur Neuausrichtung der internationalen Präsenz im Kosovo verabschieden konnte, ist die Unmik formal sogar immer noch zuständig. Tatsächlich haben in Prishtina allerdings längst die europäische Rechtstaatsmission Eulex sowie die von dem EU-Sondergesandten Peter Feith geführte Internationale Verwaltungsbehörde die entscheidenden Rollen bei der Begleitung (und Überwachung) der Demokratisierung des Kosovos übernommen.
Ein Termin für die ersten Parlamentswahlen im unabhängigen Kosovo steht noch nicht fest, doch die Herausforderungen, die mit dieser Abstimmung auf den jungen Staat zukommen werden, sind längst bekannt. Bisher wurde der Machtkampf der Kosovo-Albaner stets durch den Umstand gemildert, dass die zu erreichende Eigenstaatlichkeit als gemeinsames Ziel alle politischen Kräfte verband. Diese Klammer gibt es nun nicht mehr, und manch ein Beobachter in Prishtina befürchtet, dass sich die Auseinandersetzungen der Parteien künftig verschärfen, dass es im Kampf um Macht und Pfründe gar zu gewaltsamen Konflikten kommen wird.
Eine andere Herausforderung besteht in der Eingliederung der ethnischen Minderheiten in das parlamentarische System des Kosovos. Der Plan des UN-Vermittlers Martti Ahtisaari, der sich bis in Details in der kosovarischen Verfassung widerspiegelt, sieht umfangreiche Rechte für Serben und andere Minderheiten des Kosovos vor. So ist in der Verfassung festgelegt, dass von den 120 Sitzen des zu wählenden Parlaments in Prishtina 20 automatisch an Parteien, Koalitionen oder Einzelkandidaten der Minderheiten fallen. Die Hälfte dieser garantierten Sitze ist für Repräsentanten der Serben vorgesehen, die anderen zehn kommen den kleineren Minderheiten zu, etwa Roma, Bosniaken und Türken. Gemessen an ihrem tatsächlichen Bevölkerungsanteil werden Serben und andere Minderheiten im kosovarischen Parlament damit zumindest in der Theorie überrepräsentiert sein. Durch diese "positive Diskriminierung", die sich schon in dem seit Mai 2001 geltenden "provisorischen Verfassungsrahmen" für das Kosovo gefunden hatte, soll die Teilhabe der Minderheiten am politischen Geschehen im Kosovo sichergestellt werden.
Doch schon zu Zeiten der UN-Verwaltung hat sich dieses Konstrukt oft als graue (beziehungsweise rosarote) Theorie erwiesen. In der Praxis zeigt sich nämlich seit Jahren, dass die serbische Minderheit auf Geheiß der politischen Führung in Belgrad jegliche Wahl im Kosovo nahezu vollständig boykottiert. Ein Beispiel: Bei den kosovarischen Parlamentswahlen vom Oktober 2004 stimmten von etwa 200.000 wahlberechtigten Kosovo-Serben nur einige hundert für Kandidaten der beiden angetretenen serbischen Listen. Nach Angaben eines serbischen "Antiwahlkomitees" entsprach das einer Beteiligung der Serben von etwa 0,35 Prozent. Schon damals kam die Frage auf, wie die Unmik darauf reagieren sollte. Schließlich hatten die formal korrekt gewählten Abgeordneten der Serben zum Teil nur wenige Dutzend Stimmen erhalten - konnten sie unter diesen Umständen tatsächlich als "Repräsentanten" der serbischen Minderheit gelten? Wen oder was repräsentieren Politiker, die kaum die Stimmen ihrer eigenen potenziellen Wähler hinter sich haben? Diese Fragen sind bis heute nicht beantwortet, sie verschärfen sich in gewisser Weise sogar.
Deutlich wurde das am 11. Mai vergangenen Jahres. Damals war das Kosovo schon seit mehreren Monaten ein unabhängiger Staat, auch wenn das kaum ein Politiker in Belgrad anerkannte. In diese Zeit fielen die serbischen Kommunal- und Parlamentswahlen. Die meisten Parteien in Serbien forderten auch die Kosovo-Serben auf, sich daran zu beteiligen. Gegen den Protest der kosovarischen Regierung ließ Serbien die Wahlen in 25 von Serben bewohnten Gemeinden und Enklaven des Kosovos abhalten. Nach Lesart der UN-Verwaltung hat sich Serbien durch die Abhaltung von Kommunalwahlen im Kosovo aber in die inneren Angelegenheiten seines Nachbarstaates eingemischt, weshalb der damalige Chef der Unmik, der deutsche Diplomat Joachim Rücker, die Ergebnisse der Abstimmung für illegal erklären ließ. "Illegale Wahlen können keine legalen Konsequenzen haben. Ihr Ergebnis wird nicht anerkannt", lautete die Losung.
Doch auch diese Entscheidung hatte ihre Tücken. Sollte man etwa - wie im Falle der kosovarischen Wahlen - die von kaum einem Kosovo-Serben gewollten Bewerber als rechtmäßige Vertreter der serbischen Minderheit anerkennen, nicht aber die in einem demokratischen Verfahren unter starker Beteiligung der Bevölkerung gewählten Kandidaten der (illegal) im Kosovo abgehaltenen serbischen Wahlen? Es ist leicht absehbar, dass ein Beharren auf der (westlichen) Interpretation der völkerrechtlichen Lage hier in einem Konflikt mit den tatsächlichen Verhältnissen im Kosovo steht.
Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist allenfalls mittelfristig zu erkennen. Der Führung in Prishtina muss es gelingen, die Serben des Amselfelds davon zu überzeugen, dass das Kosovo auch ihr Staat werden kann. Mit Lippenbekenntnissen zur Multiethnizität ist es da allerdings nicht getan - ein echtes Integrationsangebot ist erforderlich. Erst dann werden sich die Minderheiten im Kosovo dazu bewegen lassen, ihre von der Verfassung eingeräumten Rechte auch wahrzunehmen - vielleicht.