FREIZEITVERHALTEN
Trotz neuer Medien bleibt der Wunsch nach direkter Kommunikation - von Mensch zu Mensch
Es war einmal ein Bauer, dem lief seine herrliche Stute davon. Sofort kamen die Nachbarn: "Du bist sicher sehr traurig", sagten sie. Doch der Bauer antwortete nur: "Vielleicht". Eine Woche später kam die Stute zurück und brachte fünf wilde Pferde mit. Wieder kamen die Nachbarn:"Du bist jetzt sicher sehr glücklich." Und wieder antwortete der Bauer nur: "Vielleicht". Beim Versuch, auf einem der Wildpferde zu reiten, brach sich der Sohn des Bauern ein Bein. "So ein Pech", sagten die Nachbarn. "Vielleicht" antwortete der Bauer. Drei Tage später kamen Offiziere, um Soldaten zu rekrutieren. Sie nahmen alle jungen Männer mit - nur den Sohn des Bauern nicht, weil er für den Kriegsdienst untauglich war .
Wer sich mit der Zukunft des Fernsehens beschäftigt, kann aus dieser Geschichte lernen, dass es nicht nur "eine" Sichtweise und nicht nur "eine" Zukunft gibt. Denn nicht alles, was möglich ist, ist auch realistisch. Und nicht alles, was machbar ist, ist auch wünschenswert.
Eignet sich das Fernsehen überhaupt für präzise Prognosen? Die Medienentwicklung stößt zunehmend an ihre Grenzen: Immer mehr TV-Programme, Video, DVD und Computerspiele sowie eine wachsende Vielfalt von Möglichkeiten zu Online-Shopping und Telekommunikation machen auf die Konsumenten den Eindruck der Lawinenhaftigkeit: Man fühle sich von den Möglichkeiten förmlich überrollt, erklärt mittlerweile jeder zweite Bundesbürger.
Viele Zukunftseuphorien haben sich als Luftblasen erwiesen: So sollte es nach früheren Vorstellungen der UFA Film- und Fernseh GmbH schon längst "mehr als 1.000 TV-Kanäle in Europa" geben, so dass wir uns zu "mit Computer, Telefon und Fernsehschirm komplett vernetzten Haushalten" entwickeln. Nach Hubert Burda sollte es im Jahr 2000 das TV, wie wir es heute kennen, nicht mehr geben. "Pay-per-view", interaktive Spiele und Computershows sollten die Programmstrukturen der TV-Sender abgelöst haben. Die Urgewalt der digitalen Revolution sollte unsere Zivilisation verändern, in der wir leben. Und der Springer-Verlag verhieß den Zuschauern für die Jahrtausendwende gar "eine vollkommen neue Freiheit", sodass die Zuschauer bei Spielfilmen zwischen verschiedenen Happy-Ends wählen können. Lässt sich die Frage nach der TV-Zukunft überhaupt seriös beantworten?
Schauen wir ein Vierteljahrhundert zurück: 1983 - in Deutschland gab es noch kein Privatfernsehen - veröffentlichte der Autor sieben Thesen zur Entwicklung und Zukunft des Fernsehens. Zum Ersten habe die erste "Fernsehgeneration" das Erwachsenenalter erreicht und sei mehr vom Massenmedium "Fernsehen" als vom Einfluss der Bildungseinrichtung "Schule" geprägt. Zum Zweiten sei das Fernsehen für viele Menschen zum Leit- (und manchmal auch zum Leid-)Medium ihres Freizeitverhaltens geworden. Dem Fernsehen der Zukunft ergehe es wie dem Radio in den 1960er und 70er Jahren: Es bekommt eine "Nebenbei-Funktion" als Zweit- oder Drittaktivität. Die vierte These lautete damals: Die Entdeckung des Fernsehens als Medium zur Aktivierung der Zuschauer steht noch aus. Und These Nummer fünf erklärte, die Zuschauer müssen - als "Programmdirektor Publikum" - ernst genommen werden, indem sie Einfluss auf die Gestaltung der Sendungen bekommen. Außerdem könnten eine glaubwürdige Vermittlung eigentlich nur Sendungen mit Live-Charakter gewährleisten, an deren Ablauf die Zuschauer aktiv beteiligt werden wie zum Beispiel durch Live-Gespräche und Diskussionen mit Studio-Gästen oder auch durch Telefonanrufe vor, während und nach der Sendung. Die letzte der sieben Thesen beschrieb stereotyp wirkende An- und Abmoderationen à la "und nun zum nächsten Beitrag ..." als deplatziert. Moderatoren müssten wie Animatoren sein, wie Menschen und Nachbarn von nebenan.
Inzwischen haben wir uns von alten Maz-Konserven weitgehend verabschiedet. Wir kommunizieren mit einer neuen Moderatoren-Generation, kennen Reality-TV und Casting-Shows, Promi-, Star- und Publikumsquiz und konsumieren Ereignisfernsehen und Eventmovies in einer gelungenen Mischung aus Straße und Arena, Börse und Parlament. Was kann jetzt eigentlich noch kommen? Die Rezipienten von morgen sind alle schon geboren. Auf sie wartet ein Zeitalter der Extreme, in dem fast jedes im Fernsehen übertragene Ereignis "Einmaligkeitscharakter" beansprucht. Das Fernsehgerät als Wandbildschirm zu Hause oder Handy-TV unterwegs läuft den Printmedien meilenweit den Rang ab. Tageszeitungen und Wochenmagazine kommen fast immer zu spät - und kommen zugleich immer weniger an: Denn Vielleser und Gelegenheitsleser werden rar.
Andererseits gilt für alle Medien gleichermaßen: Neben Informieren und Unterhalten wird die dritte Dimension des "Beratens" immer wichtiger. Sinn- und Existenzfragen interessieren am meisten: Wie sicher ist mein Job? Reicht meine Rente? Kann "gut leben statt viel haben" eine echte Alternative für die eigene Zukunft sein? Ansonsten ist die TV-Zukunft weitgehend vorgezeichnet. Symptome und Signale hierfür sind: Das Fernsehen wird erheblich altern. Dabei wird RTL seine wichtigste TV-Zielgruppe verlieren, die werberelevanten 14- bis 49-Jährigen. Im Jahr 2030 liegt das Durchschnittsalter der RTL-Zuschauer bei über 50 Jahren und der Sender dürfte dann zum Synonym für "50plus" werden, während ZDF und ARD die "Rentnergeneration" der über 65-Jährigen versorgen. Die Werbewirtschaft stellt sich notgedrungen auf die in der Fachsprache "Silver-Generation", "Master Consumer" und "Best Ager" genannten Zielgruppen um.
Dabei wird das Fernsehen der Zukunft zum "Wegwerf-TV": Heute gedreht, morgen gesendet und übermorgen vergessen. Eine Art Fahrstuhl-Effekt stellt sich ein. Fast alles wird eine oder zwei Niveau-Ebenen tiefer gefahren. Die Fülle der Film- und Programmproduktionen zwingt zur Niveauverflachung. Die Verpackung soll verschleiern, wie dünn die Inhalte gelegentlich sind.
Das "Nur fernsehen" geht weiter zurück. Die meisten TV-Konsumenten wollen unterhalten und berieselt werden, damit sie in Ruhe ihren Gedanken oder anderen Beschäftigungen nachgehen können. Die vierte Medienrevolution lässt noch auf sich warten: Die erste gehörte dem Fernsehen, die zweite der Fernbedienung, die dritte dem Internet. Die vierte Medienrevolution soll der TV-PC-Handy-Alleskönner sein. Schon heute kann man mit dem Computer Fernseh gucken und mit dem Mobiltelefon ins Internet gehen.
Das Online-Jahrhundert wird bald ausgereizt sein: Die Internet-Euphorie gerät in das Dilemma von Zeit und Geld, von Rechtsproblemen und Sicherheitsbedenken. Die Haushaltselektronik stößt an ihre finanziellen Grenzen, die Informationsflut wird zum Zeitkiller. Der Nutzer wird zum Verlierer zwischen Geldnot und Zeitverlust, Viren- und Hackerschäden. Dabei dürfte die Frage nach der Sicherheit des Netzes in der Zukunft offener denn je sein. Die neue Mediengeneration bewegt sich zwischen Konsum- und Verweigerungshaltung. Während die Masse der Konsumenten aus Zeitnot kaum noch eine Aktivität zu Ende führen beziehungsweise eine Sendung zu Ende sehen kann, verhält sich eine kleine Gruppe von Verweigerern fast wie eine postmediale Generation: Raus aus dem medialen Zeitkorsett und weg von sinnentleerten TV-Ritualen, Ausstieg aus Cliquenzwängen und oberflächlichen Beziehungen. Statt Beliebigkeit und Unverbindlichkeit wird wieder mehr Konstanz im Leben gesucht. Dies trifft insbesondere für die Info- und Bildungselite zu.
So gehört die Zukunft in Deutschland einer gespaltenen Mediengesellschaft, in der neue Technologien auf alte Gewohnheiten stoßen. Die Medien entwickeln sich weiter. Viele Menschen aber bleiben - technologisch gesehen - stehen. Die Hoffnung der Branche, TV-Zuschauer und PC-Nutzer, Viewer und User würden bald zu einer neuen Viewer-Generation zusammenwachsen, erfüllt sich so schnell nicht. Die pessimistische Prognose "Web frisst Fernsehen" wird ebenso wenig Wirklichkeit wie die optimistische Voraussage TV und PC wachsen zusammen."
Die Kinder werden in Zukunft sicher lieber mit dem Heimcomputer als mit dem Holz-Baukasten spielen. Nur: Die multimediale Entwicklung wird bis dahin weder unser menschliches Kommunikationsbedürfnis beeinträchtigen noch unser Interesse am Lesen von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften sterben lassen.
Und je mehr sich "Homebanking" und "Onlineshopping" ausbreiten, je größer wird das Bedürfnis nach persönlichen Kontakten, nach Sehen-und-gesehen-werden. Denn: Die Sinne konsumieren weiter mit. Auch 2030 werden die meisten Beschäftigten keine Telearbeiter sein, sondern wie bisher eher müde von der Arbeit nach Hause kommen, sich vor den Fernseher setzen, um dann letztendlich mit nichts anderem als ihrem Partner oder ihrem Kühlschrank zu interagieren.
Der Autor ist Professor und
Wissenschaftlicher Leiter der BAT Stiftung
für Zukunftsfragen in Hamburg.