FERNSEHEN
Es hat viele Entwicklungen verschlafen. Die Lust am bewegten Bild ist dennoch ungebrochen
In den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren habe ich manchmal die Zukunft des Fernsehens gesehen, häufiger die Gegenwart, die aufregend genug ist - aber die deutschen Sender zeigten fast aus-schließlich die Vergangenheit.
Am Tag, an dem Barack Obama vereidigt wurde, schaute ich mir die Zeremonie als Live-Stream auf der Website von CNN an. Und weil das Ganze eine Kooperation mit dem sozialen Netzwerk "Facebook" war, konnte ich nicht nur meine Kommentare auf die Seite stellen. Ich konnte auch die Kommentare der anderer Zuschauer lesen, und wie wir uns so verständigten über den Zauber des Moments, waren wir Washington viel näher, als wenn jeder alleine vor seinem Fernsehschirm gehockt hätte.
Was die "Sopranos" angeht, diese geniale Serie über eine Mafia-Familie in New Jersey, deren erste beiden Staffeln das ZDF geradezu versenkte: Da bin ich, obwohl ich alle Folgen auf DVD besitze, über die vierte Staffel noch nicht hinausgekommen. Schon nach der Zweiten hatte ich das Bedürfnis, unsere Literaturpäpste darüber aufzuklären, dass die epische Erzählform, die Ambition, in einem Werk die gesamte Gegenwart zu porträtieren, dass all das, was sich einst in den Romanen fand, inzwischen ausgewandert sei in die Fernsehserie; die "Sopranos" nicht zu kennen, das sei, als wenn einer noch nie von Balzac gehört habe.
Und "Californication", jene Serie, die vielleicht nicht so tief war, nicht ganz so komplex wie die "Sopranos", aber so cool und großstädtisch, so erwachsen und sexy, wie man das im deutschen Fernsehen seit der Kultserie "Kir Royal" nicht mehr gesehen hat, "Californication" schaute ich mir jeden Montag auf dem entlegenen Sender RTL2 an - und dann, weil die Dialoge auf englisch eleganter sind, noch einmal auf DVD.
Nein, angesichts solcher Angebote muss man keine Angst davor haben, dass die Menschen die Lust darauf verlieren, auch in Zukunft auf möglichst großen Bildschirmen möglichst scharfe bewegte Bilder zu sehen. Dass diese Zukunft aber viel zu tun haben könnte mit dem, was man in deutschen Fernsehredaktionen dafür hält: Darauf würde ich nicht einmal jene Summe wetten, welche die Gebühreneinzugszentrale vierteljährlich von mir fordert, ohne dass ich mich dagegen wehren könnte. Selbst wenn ich meinen Fernseher und alle Radios verschrotten würde, müsste ich immer noch zahle, solange mein Computer mit den Internet verbunden werden kann, wo ich ja, rein theoretisch, Zugang hätte zum Live-Stream des Bayerischen Rundfunks oder der Tagesschau von gestern. Immerhin gibt es mehr und mehr Gebührenzahler, die das nicht mehr für selbstverständlich halten. Die Krise des deutschen Fernsehens hat viele Gesichter, und dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten auch in der Legitimationskrise sind: Das haben sie sich wirklich verdient. Wir zahlen immer mehr und schauen immer weniger. Das geben selbst jene Rundfunkanstalten zu, die, bis vor kurzem mit dem Beistand all jener Gebührenzahler rechnen konnten, denen die Komplettkommerzialisierung des deutschen Fernsehens ein Graus gewesen wäre.
Es waren die Anstalten selber, die in der Debatte um die Frage, ob sie unsere Gebührengelder auch ins Internet investieren dürfen, und zwar, um in Konkurrenz zu treten zu Unternehmen, die ihr Geld selber verdienen. Es waren die Anstalten selber, die dabei auf Berichterstattung weitgehend verzichteten, statt dessen Propaganda für sich selber machten und so selbst ihre Sympathisanten vor die Frage stellten, ob das denn alles stimmte; ob die Öffentlich-Rechtlichen tatsächlich so unentbehrlich seien für die politische Debatte, die Grundversorgung mit Information, die Bildung der Zuschauer und deren Vergnügen auf der Höhe der Zeit und ihrer ästhetischen Möglichkeiten. Die Antwort war, naturgemäß: nein. Warum soll ich für Pilawas Quiz zahlen, wenn es Jauchs Quiz umsonst gibt? Warum soll ich für den Sport zahlen, den die Kommerzsender mit Werbung finanzieren? Wozu brauche ich ARD und ZDF, wenn deren Fernsehspiele und Miniserien längst genau so anspruchslos, verlogen und bieder sind wie die der kommerziellen Konkurrenz?
Es war die Einführung des kommerziellen Fernsehens, welche die Autorität des ganzen Mediums unterhöhlt hat - und wenn die Folgen erst jetzt, ein Vierteljahrhundert danach, so unübersehbar sind, dann liegt das nur daran, dass manche Entwicklungen so langsam vor sich gehen, dass man die Veränderung erst dann merkt, wenn sie unwiderruflich geworden ist. Als in den Achtzigern die Kommerzsender anfingen, aus jedem Sportereignis eine Sensation zu machen und jeden Kitsch zum sogenannten Event, da wurden sie belächelt.
Heute sieht fast das gesamte Programm von ARD und ZDF so aus. Und da, wo das Öffentlich-Rechtliche noch über Restbestände von Unentbehrlichkeit verfügt, bei den Nachrichten, wenn gewählt wird und der Zuschauer verlässliche Hochrechnungen und intelligente Analysen sehen will: Da wirkt es noch immer so autoritätshörig, so halbamtlich und freudlos, als wäre das korrekte Sprechen einer Agenturmeldung ein Herrschaftsakt.
Das Durchschnittsalter des Publikums steigt; Dass die absoluten Zuschauerzahlen einigermaßen stabil geblieben sind, liegt an der Demografie; daran also, dass es heute sehr viel mehr 65-Jährige als früher gibt. Und dass die Jüngeren aufs "heute-journal" und "Anne Will" oder den so genannten Mittwochsfilm ganz gut verzichten können, ist ja keine ganz schlechte Nachricht, wenn man mal davon ausginge, dass sie statt dessen ausgingen oder Gäste empfingen, Musik machten oder hörten oder womöglich gar ein Buch läsen.
Dass sich viele von ihnen im Internet den interaktiven Formen der Massenkommunikation widmen, also lieber jene Angebote anschauen, lesen oder hören, welche sie kommentieren, ihren Freunden weiterleiten oder selbst bearbeiten können; dass sie sich in den Videotheken die Spielfilme in der Originalsprache ausleihen oder ganze Fernsehserien aus England und Amerika so ernsthaft studieren, wie man das einst mit den Romanen tat: Das weist vor allem auf jene Entwicklungen, welche das deutsche Fernsehen total verschlafen hat.
Es ist so, dass nicht nur die Politik Einfluss darauf hat, wie über sie berichtet wird; auch die Präsentationsformen der Medien bestimmen den Stil der Politik - und wenn eben beide zusammen, wie hier in Deutschland, den Typus des Rechthabers und Ins-Wortfallers, des Beleidigten und Beleidigers hervorbringen, wenn Charme und Charisma, Präzision und Witz nicht nachgefragt werden, dann wird sich das Angebot auch nicht wirklich verbessern.
Für viele der vorgekauten Sprüche des Normalpolitikers muss unser Fernsehen nicht unbedingt interaktive Angebote erfinden. Aber womöglich brächten diese Angebote auch einen anderen Politikertypus hervor. Dass aber das reichste Fernsehen der Welt, das einst, mit Fassbinder, mit Helmut Dietl, die Fernsehserie als Kunstform miterfunden hat, gerade heute, da diese Kunstform blüht, zu dieser Blüte absolut gar nichts beizutragen hat, dass in Deutschland gar nichts in Sicht ist, das sich irgendwie messen könnte mit der formalen Strenge von Serien wie "24", mit der Ironie der "Desperate Housewives", mit der Modernität und Reflexivität von "Californication", dass die besten amerikanischen Serien noch nicht einmal einen öffentlich-rechtlichen Sendeplatz bekommen: Das reicht eigentlich schon als Grund, dem System die Legitimation zu entziehen. Unser Fernsehen wird in Zukunft absolut modern sein: interaktiv, mehrsprachig, geistesgegenwärtig und künstlerisch ambitioniert. Oder seine immer selbstbewussteren Zwangsabonnenten werden es zwingen, zum Spartenkanal für Nachrichten zu schrumpfen.
Der Autor ist Feuilletonredakteur der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.