Als Russland am 8. August 2008 unter Berufung auf den Schutz russischer Staatsbürger den georgischen Angriff auf die südossetische Hauptstadt Zchinwali mit Luftangriffen auf das georgische "Kernland" und dem Einmarsch in Südossetien beantwortet, ruft dies nicht nur in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken mit großen russlandstämmigen Minderheiten große Sorge vor einer russischen Invasion hervor. Auch viele Westeuropäer horchen bei der Begründung des Kampfeinsatzes auf. Sie fühlen sich an das Münchner Abkommen von 1938 erinnert, mit dessen Hilfe Hitler dem Deutschen Reich Teile der Tschechoslowakei eingliederte. Beängstigende Parallelen werden gezogen: Wieder werden das Selbstbestimmungsrecht und der Minderheitenschutz zur Legitimation von Machtpolitik herangezogen; wieder wird über die angemessene Gegenreaktion gestritten - Politik der Stärke oder Politik des Appeasements; wieder kann das Völkerrecht nicht seine friedensstiftende Kraft entfalten, sondern wird zum Spielball staatlicher Interessenpolitik; wieder wird ausgerechnet der Minderheitenschutz, eigentlich bestens geeignet zur Konfliktprävention, zum Wegbereiter der Konflikteskalation. Aus einem Friedensinstrument wird ein Kriegsinstrument. Menschenrechte werden nicht geschützt, sondern schwer verletzt.
Anhand der jüngsten Entwicklungen in der Kaukasusregion wird im vorliegenden Beitrag die Instrumentalisierung der Minderheitenpolitik durch Machtpolitik dargestellt und hinterfragt. Aus der Konfliktanalyse des Augustkriegs wird ein Muster abgeleitet, mit dessen Hilfe sich die vielen Konflikte im Kaukasus besser verstehen und die ebenso vielfältigen Lösungsansätze einordnen und bewerten lassen. Diesem Konfliktmuster wird ein Verantwortungsmuster gegenübergestellt, um die unterschiedliche Verantwortung der Akteure im Minderheitenschutz herauszustellen. Dabei wird aufgezeigt, wo Politik und Völkerrecht ansetzen müssen, um blanker Machtpolitik in ethnischen Konflikten stärker Einhalt gebieten zu können.
Die Konfliktlandschaft des Kaukasus ist so vielfältig und zerklüftet wie der Kaukasus selbst. Mehrere Konflikte überlagern sich, und die verschiedenen Akteure sind durch eine Vielzahl von Konfliktgegenständen miteinander verwickelt, wodurch eine Lösung erheblich erschwert wird. Angesichts der verfahrenen Lage im Südkaukasus, die trotz einigen Bemühens der internationalen Politik seit mehr als 15 Jahren nicht entschärft werden konnte, wurden diese Konflikte auch als frozen conflicts bezeichnet - eine sehr trügerische Beschreibung, wie sich herausgestellt hat.
Während der Nordkaukasus auf russischem Staatsgebiet liegt, setzt sich der Südkaukasus aus den drei Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan zusammen. Diese Unterscheidung ist für die internationale Politik von großer Bedeutung, da sie im Südkaukasus aufgrund der geringeren Machtfülle dieser Staaten über mehr Handlungsmöglichkeiten verfügt. Die Entwicklungen im Nord- und Südkaukasus stehen jedoch in engem Zusammenhang, da die regionalen Akteure zum Teil grenzüberschreitend agieren und die Konflikte gegenseitig ausstrahlen. Zu den regionalen Akteuren zählen auch die Sezessionsgebiete, unter anderem Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach. Hinzuweisen ist auch auf die Republik Moldau und das dortige Sezessionsgebiet Transnistrien, die nicht direkt zum Südkaukasus gehören, jedoch eine ähnliche Konfliktstruktur aufweisen. Umrahmt wird der Südkaukasus von den drei großen Regionalmächten Russland, Türkei und Iran. Als externe Akteure treten die USA und die Europäische Union in der Region auf.
Verschiedene Netzwerke weisen bereits auf wichtige Konfliktlinien hin. So kooperieren die Regierungen der Sezessionsgebiete ebenso untereinander, wie die von Sezession bedrohten Staaten. Zudem durchziehen zwei politische Achsen die Region: vertikal die Achse Russland - Armenien - Iran und horizontal die Achse Türkei - Georgien - Aserbaidschan. Durch die Aufnahme der drei südkaukasischen Staaten in die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) 2004, den avisierten NATO-Beitritt Georgiens und den Abschluss wichtiger Ölverträge hat sich zudem die euroatlantische Vernetzung intensiviert. Diese Netzwerke bieten allerdings nur eine erste grobe Orientierung. Genauer betrachtet sind die regionalen und internationalen Beziehungen weit differenzierter, wie das Beispiel Aserbaidschan zeigt, das einen (energie)politischen Spagat zwischen West und Ost versucht. Der Südkaukasus ist somit eine politisch in sich zerrissene Region, die - weit entfernt von einem stabilisierenden regionalen Integrationsprozess - noch lange nicht zu einer einheitlichen politischen Gestalt zusammengefunden hat. Dies befördert die Instrumentalisierung der regionalen Konflikte durch regionale und externe Akteure. Drei übergeordnete Konfliktgegenstände lassen sich hierbei erkennen, wobei im Folgenden nur auf den ersten Punkt näher eingegangen werden soll: (1) Fragen des Selbstbestimmungsrechts der Völker; (2) Fragen der Sicherheitspolitik; (3) Fragen der Energiepolitik.
Ungelöste Fragen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker durchziehen als Konfliktlinien zwischen den Wohnsitzstaaten der Minderheiten/Völker und den Sezessionsgebieten den Nord- wie Südkaukasus. Die aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleiteten Sezessionsforderungen zielen direkt auf die territoriale Integrität der Wohnsitzstaaten, die diese aus dem Souveränitätsprinzip ableiten. Dieser ungelöste Konflikt zweier völkerrechtlicher Prinzipien - das dynamische Selbstbestimmungsrecht der Völker gegen das statische Souveränitätsprinzip der Staaten - eskalierte in den 1990er Jahren in der Kaukasusregion gleich mehrfach. Den nach Unabhängigkeit strebenden Parteien blieb ein entscheidender Erfolg jedoch verwehrt. Sie blieben de jure Bestandteil der jeweiligen Wohnsitzstaaten, auch wenn sie in vielen Fällen eine gewisse Form der Unabhängigkeit von der Staatsgewalt und somit eine de facto-Staatlichkeit erlangen konnten. Seither versuchen die Konfliktparteien ungeachtet der in den 1990er Jahren geschlossenen Waffenstillstände neben politischen auch weiterhin mit gewaltsamen Mitteln ihre entgegengesetzten Ziele durchzusetzen.
Konfliktregelung statt Konflikteskalation verspricht das politische Instrument des Minderheitenschutzes. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Minderheitenschutz stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Beide Konzepte dienen der Herstellung von Freiheit vor Fremdherrschaft. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Reichweite. Während das sogenannte "äußere Selbstbestimmungsrecht" - unter sehr engen Voraussetzungen - nur "Völkern" zukommt und das Recht auf Sezession einschließt, beschränkt sich der Schutz der "Minderheiten" auf politische Lösungen, welche die Staatsgrenzen unberührt lassen. Die weitreichendsten Instrumente des Minderheitenschutzes sind Autonomieformen, etwa die Territorial- oder die Personalautonomie. Ein effektiver Minderheitenschutz hat damit das Potential, einen Ausgleich zwischen den Zielen beider Parteien - Abwehr von Fremdherrschaft und Wahrung der territorialen Integrität - herzustellen. Sollen Präzedenzfälle vermieden werden, die das Entstehen kaum überlebensfähiger Mikrostaaten befördern, ist der Minderheitenschutz damit die beste Option politischer Konfliktlösung.
Zwingende Voraussetzung für eine solche Lösung ist das Vertrauen in die Politik. Dieses herzustellen stellt beim Minderheitenschutz eine hohe Hürde dar: Erstens gilt es das Misstrauen der Staaten zu beheben, dass die Minderheiten die Autonomie nicht dazu missbrauchen, um doch noch eine Sezession herbeizuführen; und zweitens das Misstrauen der Minderheiten abzubauen, dass die Staatsregierung echte Autonomie gewährt, die einen eigenen Staat als Garant für die Freiheit unnötig macht. Scheitern politische Lösungen am gegenseitigen Misstrauen, weiten sich die meisten Minderheitenkonflikte tatsächlich zu Sezessionskonflikten aus. Diese Entwicklung war auch auf dem Kaukasus zu beobachten. Zwar gelang es Georgien 2004 mit einem Autonomiestatut die Schwarzmeerprovinz Adscharien wieder näher an Tbilissi (Tiflis) zu binden. Das äußerst restriktive Autonomiestatut, das weiterhin viele Kompetenzen bei der georgischen Zentralregierung beließ, rief aber nicht nur die Kritik der Venedig-Kommission des Europarats 1 hervor, sondern zerstörte auch Vertrauen in eine solche politische Lösung. Sämtliche weiteren Autonomieangebote wurden von den abtrünnigen Gebieten seither zurückgewiesen. Obwohl hierfür verschiedene Gründe ursächlich sind, die auf beiden Seiten liegen, spielt das durch die aggressive Kriegsrhetorik Georgiens und den Augustkrieg noch verstärkte Misstrauen dabei eine große Rolle.
Dieses Misstrauen zu überwinden, wäre ein wichtiger Schritt zu einer dauerhaften Konfliktlösung. Die Staatengemeinschaft kann dazu beitragen in Form von Vermittlung bei der Aushandlung der Autonomiestatute, bei deren Überwachung und beim Aufbau von Vertrauen. Doch das dringend benötigte internationale Engagement wird ebenfalls durch Misstrauen erschwert, denn die Konfliktparteien trauen auch den externen Akteuren nicht, die aus ihrer Sicht eigene Interessen verfolgen bzw. zugunsten des Gegners agieren. Dies weist auf die beiden anderen Konfliktgegenstände hin, die hier nur gestreift werden können.
Die Herstellung von Sicherheit ist oberstes Ziel aller in der Kaukasusregion agierenden Akteure. Dies betrifft nicht nur die dort siedelnden Völker und Minderheiten, denn der Region wird in verschiedener Hinsicht auch für die Sicherheit weit entfernt lebender Völker geostrategische Bedeutung beigemessen: zum einen in Hinblick auf die Ausweitung von geopolitischen Einflusssphären, zum anderen in Hinblick auf die Bedrohungen durch schwache oder zerfallende Staaten (failed states), organisierte Kriminalität und Terrorismus. In ihrer Sicherheitsstrategie von 2003 weist die EU diesbezüglich explizit auf den Südkaukasus hin. Eine weitere Konfliktlinie entspannt sich entlang der Energiepolitik. Dabei geht es den verschiedenen Akteuren unter anderem darum, den Einfluss Russlands zu vergrößern bzw. zu verringern. Dem Südkaukasus als Transitregion kommt also auch hierbei große geostrategische Bedeutung zu.
Aus sicherheits- und energiepolitischen Erwägungen ist damit die regionale Stabilität des (Süd)Kaukasus im Interesse der externen Akteure. Dieses Interesse an Stabilität teilten im August 2008 jedoch weder Georgien noch Russland. Beide Staaten suchten den Krieg, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Während für Georgien hauptsächlich die oben genannten Konfliktgegenstände (1) und in Teilen auch (2) ausschlaggebend waren - Georgien wollte die Reintegration der abtrünnigen Provinzen sowie seinen NATO-Beitritt durchsetzen -, waren für Russland neben innenpolitischen Motiven eher die Konfliktgegenstände (2) und (3) - Sicherheit und Energie - ausschlaggebend, wofür es den Konfliktgegenstand (1) - Fragen des Selbstbestimmungsrechts - jedoch argumentativ nutzte.
Auffällig war dabei der Strategiewechsel der russischen Außenpolitik. War es in den 1990er Jahren noch ihr Ziel, die territoriale Integrität Georgiens zu stützen, um den auch im Nordkaukasus erhobenen Sezessionsforderungen entgegenzuwirken, änderte sich die Politik des Kremls mit der Annäherung Georgiens an den Westen, insbesondere an die NATO. Das Eindringen der fremden Macht in die russische Einflusssphäre erschien Moskau bedrohlicher, als die Rückwirkungen der georgischen Sezessionskonflikte. Die russische Regierung begann, die georgischen Konflikte weniger als Bedrohung, sondern vielmehr als Instrument zu betrachten, mit dessen Hilfe es seinen Einfluss auf die internationale Politik ausbauen konnte. Gestützt wurde diese Rationalität durch die in der NATO wiederholt vorgetragene Position, dass ihr nur Staaten ohne innere Konflikte beitreten könnten. Fortan baute Russland daher sein Instrument "georgische Spannungen" weiter aus, was dazu führte, dass sich letztlich zwei eng zusammenhängende Konflikte entwickelten: erstens der Sezessionskonflikt zwischen Georgien und seinen abtrünnigen Provinzen und zweitens der bilaterale Konflikt zwischen Georgien und Russland. Beide Konflikte sind zudem mit dem latenten Konflikt zwischen Russland und dem Westen in Fragen der Sicherheits- und Energiepolitik verknüpft.
Eine Instrumentalisierung der innenpolitischen Sezessionskonflikte, um außenpolitische Ziele zu erreichen, wird nicht nur Russland vorgeworfen, sondern auch Georgien und den externen Akteuren. Da jedoch befürchtet wird, dass Russland diese Politik auch in anderen Regionen wiederholen könnte, soll hier nur auf das russische Vorgehen eingegangen werden. Russland bediente sich harter und weicher Instrumente zur Beeinflussung der ethnischen Konflikte - wovon hier nur einige genannt werden können - und ging dazu auf verschiedenen Ebenen vor. Zunächst sicherte es sich seinen unmittelbaren Einfluss im Krisengebiet, indem es die separatistischen Gebiete auf vielfältige Weise aktiv unterstützte. Durch die Ausgabe russischer Pässe vergrößerte es die russischen Minderheiten, die in den Genuss verschiedener Vergünstigungen kamen. Wichtige Posten in Abchasien und Südossetien wurden mit russischen Gewährsleuten besetzt. Im März 2008 hob Russland einseitig das Embargo gegen die beiden abtrünnigen Gebiete auf, das 1996 von der GUS verhängt worden war. Militärisch trat Russland als Sicherheitsgarant auf. Diese politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und militärische Verflechtung fand ihren (vorläufigen) Höhepunkt in der Anerkennung beider Gebiete als Staaten durch Russland. Mit beiden "Staaten" hat Russland seitdem militärische Beistandspakte geschlossen.
Dies wirft Fragen auf: Warum können zwei Prinzipien des Menschenrechtsschutzes - das Selbstbestimmungsrecht und der Minderheitenschutz - von einem Staat derart für dessen Machtpolitik vereinnahmt werden, ohne dass dieser von der Staatengemeinschaft daran gehindert wird? Sind die Akteure ihrer Verantwortung für den Minderheitenschutz in geeigneter Weise nachgekommen oder tragen sie durch ein mögliches Fehlverhalten im Minderheitenschutz eine Mitverantwortung für die Eskalation der Konflikte? Antworten hierauf haben die Entwicklungen im internationalen Minderheitenschutz zu berücksichtigen. Dabei wird zwischen der primären und der sekundären Schutzverantwortung unterschieden. Primär liegt der Schutz der Minderheiten stets in der Verantwortung des Wohnsitzstaates und der Minderheiten, erst sekundär liegt er in der Verantwortung des Mutterstaates und - wie es hier bezeichnet wird - erst tertiär in der Verantwortung der Staatengemeinschaft (Abbildung).
Die primäre Schutzzuständigkeit, die sich aus dem Grundsatz der staatlichen Souveränität ergibt, ist in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und politischen Dokumenten geregelt. Besondere Erwähnung verdienen in Europa das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (RÜ) und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (SC). 2 Beides sind völkerrechtliche Verträge des Europarats, die Minderheitenrechte benennen und über einen Monitoring-Mechanismus verfügen. Während Georgien die Sprachencharta bisher nicht unterzeichnet hat, ist das Rahmenübereinkommen im April 2006 in Georgien in Kraft getreten. Diese Entwicklungen, vor allem aber auch die von Misstrauen geprägte georgische Autonomiepolitik haben letztlich jedoch zu keiner einvernehmlichen Konfliktlösung geführt. Georgien hätte seine primäre Schutzverantwortung für die auf seinem Gebiet siedelnden Minderheiten und Völker glaubwürdiger herausstellen müssen.
Aber wie verhält es sich mit den Minderheiten? Diese tragen ebenfalls primäre Verantwortung für die Konfliktlösung. Zwar gibt es keine völkerrechtlich verankerte "Loyalitätspflicht", dennoch wird in Artikel 20 des Rahmenübereinkommens festgehalten, dass die Angehörigen nationaler Minderheiten "die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und die Rechte anderer, insbesondere diejenigen von Angehörigen der Mehrheit oder anderer nationaler Minderheiten, zu achten" haben. Auch der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten (engl. HCNM) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weist auf die Verantwortung der Minderheiten hin, "to participate in cultural, social and economic life and in public affairs, thus integrating into the wider national society." 3 Statt nach Integration drängen Abchasien und Südossetien jedoch nach Sezession. Es kam zu Flucht und Vertreibung von ethnischen Georgiern aus beiden Gebieten. Da der Handlungsspielraum der georgischen Regierung in diesen Gebieten jedoch äußerst beschränkt ist, sind Abchasien und Südossetien diesbezüglich in die Pflicht zu nehmen. Es ist jedoch fraglich, ob sämtliche Eliten in den Sezessionsgebieten Interesse an einer Konfliktlösung haben. Zum einen lassen die engen Verbindungen nach Moskau daran Zweifel aufkommen, zum anderen bietet die "Nichtstaatlichkeit" ein breites Spektrum an Möglichkeiten zur Bereicherung. Auch wurden mitunter diverse Vermittlungsangebote seitens Dritter abgelehnt.
Die sekundäre Schutzzuständigkeit für den Minderheitenschutz liegt bei den Mutterstaaten, von denen einige diese Verantwortung sogar mit Verfassungsrang ausgestattet haben. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit bildet dabei das Konzept der Nation ein wichtiges Verbindungselement zwischen Mutterstaat und nationaler Minderheit. 4 Seit den 1990er Jahren nehmen immer mehr Staaten diese Schutzzuständigkeit für "ihre" Minderheiten, die in anderen Staaten siedeln, wahr. Neben zwischenstaatlichen Verträgen sind einseitige (gesetzliche) Regelungen mit exterritorialer Geltung eine durchaus gängige Praxis. Nach Auffassung der Venedig-Kommission sollten derartige unilaterale Regelungen folgende völkerrechtlichen Prinzipien respektieren: a) das Prinzip der territorialen Souveränität, b) das Prinzip Pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten), c) das Prinzip gutnachbarschaftlicher Beziehungen sowie d) das Prinzip der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere das Diskriminierungsverbot. 5
Wichtige internationale Gremien wie die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE), haben sich dieser Auffassung angeschlossen. 6 Darauf aufbauend hat 2008 der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten Empfehlungen zum Umgang mit nationalen Minderheiten in zwischenstaatlichen Beziehungen herausgegeben. 7 Damit verfestigen sich im Soft Law Bedingungen und Grenzen für das Zustandekommen und für den Inhalt von Minderheiten schützenden Maßnahmen durch Mutter- und Drittstaaten. Einen völkerrechtlichen Vertrag, der die sekundäre Schutzzuständigkeit umfassend regelt, gibt es bisher nicht. Allerdings enthalten einige völkerrechtliche Verträge Teilaspekte dieser sekundären Schutzzuständigkeit.
Auch Russland hat sich auf seine Schutzverantwortung als Mutterstaat berufen, allerdings steht das russische Vorgehen in starkem Kontrast zu den Empfehlungen des HCNM. Demnach sollten Staaten unter anderem davon Abstand nehmen, ihre Staatsbürgerschaft en masse zu verleihen. Die unilateralen Maßnahmen sollten in Konsultation und mit Zustimmung des Wohnsitzstaates getroffen werden und insbesondere in Bereichen außerhalb von Kultur und Bildung eher die Ausnahme bleiben. Ferner sind sie nicht diskriminierend auszugestalten und sollten weder den sozialen Zusammenhalt noch die territoriale Integrität gefährden. Maßnahmen, die separatistische Tendenzen stützen könnten, sind zu unterlassen. Schließlich sollten die Mutterstaaten eine konsistente Minderheitenpolitik betreiben, das heißt, ihre Anstrengungen zum Schutz der Minderheiten im eigenen Staatsgebiet sollten mit den Schutzmaßnahmen für "ihre" Minderheiten in fremden Staaten vergleichbar sein. Ohne auf sämtliche Empfehlungen des HCNM einzugehen, ist es offensichtlich, dass Russland seine sekundäre Schutzverantwortung überaus extensiv interpretiert und ausgeübt hat.
Die "tertiäre Schutzverantwortung", wie sie hier bezeichnet wird, liegt bei der Staatengemeinschaft. Aufträge zum Minderheitenschutz und/oder der Achtung des Selbstbestimmungsrechts finden sich in den Regelwerken der meisten internationalen Organisationen. Wieweit diese Verantwortung bei innerstaatlichen Konflikten reicht, ist jedoch umstritten, da dem normativen Auftrag des Menschenrechtsschutzes das Interventionsverbot entgegensteht. Die Auflösung dieses völkerrechtlichen Konflikts folgt in der Praxis meist politischen Erwägungen. Doch selbst wenn eine internationale Responsibility to Protect befürwortet wird, ist dies eine rein subsidiäre Verantwortung.
Es können an dieser Stelle nicht sämtliche Aktionen der Staatengemeinschaft, die zur Konfliktlösung im Kaukasus angestrengt wurden, nachgezeichnet werden. Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie den Augustkrieg nicht verhindern konnten. Die Gründe reichen von ungenügenden eigenen Anstrengungen über Behinderungen durch die Konfliktparteien bis hin zu strukturellen Defiziten des Völkerrechts und der internationalen Politik. Daran lassen sich einige Ansatzpunkte erkennen, wo die Staatengemeinschaft aktiv werden sollte, damit ähnliche Konfliktszenarien in Zukunft verhindert werden können. Im Bereich der primären Schutzverantwortung hat die Staatengemeinschaft die Anwendung und Fortentwicklung der genannten völkerrechtlichen Verträge voranzutreiben. Die Staaten selbst sollten bei der Ausgestaltung ihrer Minderheitenpolitik noch stärker die internationalen Standards beachten und auf die Expertise der internationalen Beratungsorgane zurückgreifen. Im Bereich der sekundären Schutzverantwortung sind die juristisch bisher erst schwach ausgebildeten Regelungen von der Staatengemeinschaft politisch zu untermauern und völkerrechtlich weiterzuentwickeln. Da diese Regelungen Klarheit über die Bedingungen und Grenzen der Schutzpolitik der Mutterstaaten schaffen, können sie eine Koppelung verschiedener Konfliktgegenstände erschweren und damit die Instrumentalisierung des Minderheitenschutzes vermeiden helfen.
Letztlich sind auch im Bereich des Selbstbestimmungsrechts weitere Entwicklungen nötig. In den meisten Fällen entscheidet nicht das betroffene Volk über sein äußeres Selbstbestimmungsrecht, sondern die Staatengemeinschaft. Diese hält mit dem Instrument der Anerkennung den Schlüssel für die Aufnahme des neuen Staates in ihre Gemeinschaft in der Hand. Das bringt sie in die Verantwortung, deutlich herauszustellen, aufgrund welcher Kriterien sie einem Volk das äußere Selbstbestimmungsrecht "gewährt". Eine solche ausführliche Begründung würde eine Systematisierung des Selbstbestimmungsrechts hervorbringen und die überaus problematische Berufung auf vermeintliche Präzedenzfälle erschweren. Auch wäre die Staatengemeinschaft gezwungen, selbst eine einheitliche Linie zu verfolgen. In der Europäischen Union wurde mit dieser Verregelung bereits begonnen. Seit Anfang der 1990er Jahre - und zuletzt im Falle des Kosovo - machen die EU-Staaten die Anerkennung als Staat unter anderem von der Gewährleistung von Minderheitenrechten abhängig.
Daneben gilt es, die indirekte Instrumentalisierung des äußeren Selbstbestimmungsrechts durch einen Drittstaat auszuschließen. Will man im Kaukasus eine Situation vermeiden, wie sie auf Zypern entstanden ist, sollte sich die Staatengemeinschaft darum bemühen, so rasch wie möglich einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu finden, die aus der vorzeitigen Anerkennung von Abchasien und Südossetien erwachsen. Dabei sollte sie darauf bestehen, dass wer auch immer die Herrschaft in Abchasien und Südossetien ausübt, auch die primäre Verantwortung übernehmen muss, die dortigen Minderheiten zu schützen - selbst wenn es sich um keine international anerkannten Staaten handelt. 8
Es ist offensichtlich, dass das Völkerrecht bei der Regelung ethnischer Konflikte in seiner Reichweite begrenzt ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der internationale Verregelungsprozess diese Grenzen bereits erreicht hat. Aufgabe der Politik ist es, die Rechtsentwicklung weiter zu fördern und das Völkerrecht dort, wo es an Grenzen stößt, mit politischen Maßnahmen auszugleichen. Wo das Völkerrecht jedoch von Machtpolitik instrumentalisiert zu werden droht, muss die Politik entschieden und kohärent dagegen auftreten. Nur so kann sichergestellt werden, dass das große Potential des Minderheitenschutzes zukünftig nicht mehr zur Konflikteskalation, sondern zur Konfliktprävention eingesetzt wird.
1 Anm. d. Red.:
Die 1990 gegründete "Venedig-Kommission" des Europarats
(Europäische Kommission für Demokratie durch Recht)
berät osteuropäische Staaten u.a. in
verfassungsrechtlichen Fragen.
2 Europaratsverträge Nr. 157
(RÜ) und 148 (SC); beide sind 1998 in Kraft getreten.
3 Explanatory Note to Rec. 7, HCNM, The
Bolzano/Bozen Recommendations on National Minorities in Inter-State
Relations & Explanatory Note, June 2008, S. 15.
4 Vgl. Parlamentarische Versammlung des
Europarats (PACE), Empfehlung 1735 (2006).
5 Vgl. European Commission for Democracy
through Law (Venice Commission), Report on the preferential
treatment of national minorities by their kin-states, 19 - 20
October 2001, CDL-INF (2001) 19.
6 Vgl. PACE, Ziff. 8, Resolution 1335
(2003); Ziff. 13, Rec. 1735 (2006); HCNM, Statement "Sovereignty,
Responsibility and National Minorities", 26. 10. 2001.
7 Vgl. Anm. 3.
8 Vgl. HCNM, Statement vom 23. 9.
2008.