KOOPERATION
Trotz Anlaufschwierigkeiten sollte man die Mittelmeerunion nicht verloren geben
Das Mittelmeer bildet um sich einen faszinierenden Raum. An seinen verschiedenen Ufern weisen die Lebensformen der Menschen viele Ähnlichkeiten auf. Im gemeinsamen mediterranen Becken sind Afrika, Asien und Europa und der jüdische, christliche und islamische Kulturkreis vertreten. Sie begegnen sich hier, bei aller Unterschiedlichkeit, in einer gemeinsamen Zivilisation. Da liegt es nahe, hier auch einen politischen Rahmen zu formen, in dem man an praktischen Aufgaben zusammenarbeitet und wetteifert. In diesen Tagen hat das "Desertec"-Projekt, das eine Nutzung der Solarenergie im großen Maßstab anstrebt, die Potenziale dieses Raums vor Augen geführt.
Die Idee einer gemeinsamen, paritätischen Arena war Ziel der "Union für das Mittelmeer", die am 13. Juli 2008 in Paris gegründet wurde. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hatte die Initiative angestoßen. Sein Plan war ein Zusammenschluss der Anrainerstaaten. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte dafür gesorgt, dass alle Mitglieder der Europäischen Union einbezogen wurden. 43 Staats- und Regierungschefs aus Ländern nördlich, südlich und östlich des Mittelmeeres unterzeichneten schließlich das Gründungsdokument. Die Union war nicht der erste Versuch einer gemeinsamen Mittelmeerpolitik, aber diesmal sollten alte Fehler vermieden werden. Die Union sollte den Anrainerländern wirklich die Hauptrolle geben, und sie sollte eine Begegnung auf Augenhöhe ermöglichen. Dazu sollten nicht die großen Konflikte im Mittelpunkt stehen, sondern alltagsrelevante Aufgaben, bei deren Bewältigung die Anrainer zusammen arbeiten und voneinander lernen können. Dazu wählten die Mitglieder die Bereiche Wasserversorgung, Energieversorgung, Reinhaltung des Meeres und Sicherheit der Seewege aus.
Allerdings ist die neue Union im ersten Jahr ihres Bestehens nicht recht vorwärtsgekommen. In den großen Konflikten - zum Beispiel dem Gaza-Konflikt - hat sie keine Rolle gespielt. Im Gegenteil führte dieser Konflikt dazu, dass einige arabische Staaten den gemeinsamen Lenkungssitzungen fernblieben. Die meisten Nachrichten über die Mittelmeerunion betrafen interne Organisationsfragen. Erst in jüngster Zeit gibt es kleine Schritte zur Entwicklung konkreter Projekte. Am 25. Juni fand ein Treffen der Umweltminister statt, am 7. Juli ein Treffen der Finanzminister. Die EU-Kommission kündigte eine Aufstockung der Mittel für Vorhaben der Umweltsanierung, der Solarenergie, der Seeverkehrssicherheit und der Zusammenarbeit von Privatunternehmen und Forschungseinrichtungen für 2009 und 2010 an. Hier haben sich bereits einzelne Partnerschaften entwickelt, die oft behutsam vorgehen und nicht sofort die Aufmerksamkeit der Medien suchen. Im April wurde in Alexandria ein Investitionsfonds für langfristige Infrastruktur-Projekte (InfraMed) gegründet, der von Banken aus Ägypten, Frankreich, Italien und Marokko getragen wird.
Dennoch war der Start der Mittelmeerunion - gemessen an den großen Erwartungen - insgesamt so zögerlich, dass am Jahrestag der Gründung die skeptischen Stimmen überwogen. Ist die Union tragfähig, gibt es genügend gemeinsame Substanz? In der europäischen Südpolitik gibt es zwei sehr verschiedene Ansätze, die beide gute Argumente für sich beanspruchen können. Auf der einen Seite gibt es seit 1995 den Barcelona-Prozess. Er setzte auf große Ziele und Mittel. Nach der Logik des "Forderns und Förderns" wurden recht hohe marktwirtschaftliche, rechtsstaatliche, soziale und ökologische Normen formuliert, deren schrittweise Erfüllung mit Fördermitteln belohnt werden sollte. Das war durchaus konsequent, aber auch einseitig. Trotz aller Betonung einer neuen Partnerschaft war es der Norden, der die Maßstäbe setzte. Das lag vor allem an den großen sozioökonomischen Gewichtsunterschieden zwischen dem "EU-Ufer" und dem Süd- und Ostufer des Mittelmeers. Auch bei fairen Preisen sind die Handelsbeziehungen sehr ungleich: Etwa 50 bis 60 Prozent der Exporte der Süd- und Ostanrainer gehen in die EU. Umgekehrt machen für die EU die Exporte in diese Region nur 3 bis 5 Prozent des Gesamtexports aus. Solche einseitigen Abhängigkeiten sprechen nicht gegen eine offene Handelspolitik, aber man darf an "Handel und Wandel" keine so hohen sozialen und politischen Erwartungen knüpfen.
Nicht nur bei der wirtschaftlichen Stärke, sondern auch bei anderen Maßstäben täuscht das geographische Bild des gemeinsamen Beckens. Es gibt eine Schieflage. So befanden sich die Anrainer des Süd- und Ostufers bei den Themen, die der Barcelona-Prozess oben auf die Agenda setzte, in einer Rolle des "noch nicht". Sie erfüllten noch nicht alle Kriterien der sozialen Marktwirtschaft, der Demokratie und des kulturellen Pluralismus. Die besonders "guten" Ziele führten also zu einem besonders großen Gefälle. Damit musste auf eine wesentliche Entwicklungsressource verzichtet werden: auf die Würde des eigenen Wegs. Das Unbehagen der Südanrainer wuchs, der Barcelona-Prozess stagnierte. Schon 2001 hatte der wissenschaftliche Beirat des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) auf die begrenzten Reformwirkungen der europäischen Mittelmeerpolitik hingewiesen. Von 2004 an akzentuierte dann die neue Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) das bilaterale Element. Sie wandte sich verstärkt an einzelne Anrainerländer und differenzierte ihre Förderpolitik. Sie schlug damit einen Weg ein, der aus ihrer Organisationslogik heraus verständlich ist. Allerdings spielte nun das multilaterale Potenzial des mediterranen Raums keine große Rolle mehr. Die EU-Nachbarschaftspolitik führt eher zu einer konzentrischen "Politik der Ringe", in die sich einzelne Länder nach ihrer Nähe oder Distanz zum europäischen Modell einordnen müssen.
Der zweite Politik-ansatz, aus dem die Idee der Mittelmeerunion geboren wurde, will dieses Nord-Süd-Gefälle umgehen. Er will die zivilisatorische Einheit des Mittelmeers besser nutzen und auf die "gleiche Augenhöhe" aller Anrainer achten. Allerdings ist dieser Ansatz auch kein Allheilmittel, sondern hat eigene Schwachstellen. Er kann nicht so hohe Ziele setzen, sondern muss Aufgaben auf einer bescheideneren Ebene finden, auf der alle Akteure Eigeninitiative entwickeln können. Problematische Themen wie zum Beispiel die Menschenrechte müssen zunächst zurückstehen, damit die Partner nicht gleich ihre Institutionen zur Disposition stellen müssen. Auf diese Politikebene zielen die Bezeichnungen "Union der Projekte" und "Politik der Zivilisation", die insbesondere in Frankreich mit der Mittelmeerunion verbunden werden. Eine wirklich eigenständige Mittelmeerarena bedeutet also weniger Forder- und Förderansprüche von der europäischen Seite. Die EU müsste sich hier auf ein echtes "Auswärtsspiel" einlassen.
Europäische Nachbarschaftspolitik und Mittelmeerunion stehen also nicht in Konkurrenz zueinander. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung, sie können gut nebeneinander bestehen. Allerdings müssen sie ihr jeweiliges Profil deutlich ausbilden. Es ist der Mittelmeerunion noch nicht gelungen, ihre Politik der Projekte ausreichend greifbar zu machen und zu zeigen, wie eine Politik auf Augenhöhe aussehen kann. Auch die Wahl Barcelonas zum Sitz der Mittelmeerunion trug nicht zur Profilierung bei. Ein mutigeres Zeichen wäre eine Stadt am Südufer wie Tunis oder Kairo gewesen.
Im Grundsatz gilt jedoch, dass die politische Idee der Mittelmeerunion Substanz hat. Diese Idee ist auch aktuell. In jüngster Zeit haben sich in der arabisch-islamischen Lebenswelt neue Freiheitsbedürfnisse gezeigt, wie die Proteste im Iran und die Wahlen im Libanon belegen. Zugleich legen die Menschen großen Wert auf die Identität ihres Kulturkreises und auf die Integrität ihrer Länder. Man darf nicht erwarten, dass aus der neuen sozialen Öffnung eine Europäisierung folgt. Die mediterrane Arena könnte hier einen unabhängigen Vermittlungsraum bilden. So etwas geschieht allerdings nicht durch einen Konferenzbeschluss, sondern braucht Zeit. Man sollte daher die Mittelmeerunion als einen Orientierungsrahmen verstehen, der sich allmählich füllen kann. Es gehört zur Natur der Sache, dass lebensnahe, nachhaltige Projekte zunächst zögernd beginnen und in ihrer Pionierphase keine Schlagzeilen machen. Man sollte sich von dem schwierigen ersten Jahr der Union nicht entmutigen lassen, sondern weiterarbeiten.
Der Autor ist Publizist und Privatdozent an der TU Berlin