FLOTTEN
Das Mittelmeer ist strategisch wichtig. Das könnte neue Konflikte bringen
Mitten in der Nacht nähern sich islamistische Terroristen mit einem Schlauchboot einem in einem europäischen Hafen vor Anker gegangenen Kreuzfahrtschiff, entern es und sprengen das Schiff sowie sich selbst in die Luft. Das gekenterte Schiff versperrt für Tage die Hafeneinfahrt, so dass Frachtschiffe ihr Gut nicht löschen können. So oder so ähnlich klingen die Albtraumszenarien strategischer Planer in den nationalen Verteidigungsministerien und internationalen Organisationen, wenn über Bedrohungen im Mittelmeerraum nachgedacht wird. Diese Region hat seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und durch die Anschläge vom 11 September eine neue Bedeutung für die Sicherheit des transatlantischen Raumes erhalten. Während des Kalten Krieges stellte das Meer die Südflanke der Nato dar; das primäre Ziel der Nato-Mitgliedsstaaten bestand darin, der Sowjetunion und ihrer Flotte einen permanenten Zugang zum warmen Wasser zu verwehren.
Mit dem Ende der globalen Blockkonfrontation gewann der Mittelmeerraum für die europäischen Staaten und für die USA eine strategische Bedeutung. Der Grund: Die Region hat sich zum zentralen Krisen- und Konfliktbogen des endenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts entwickelt, von dem die meisten militärischen und nicht-militärischen Gefahren und Risiken für die europäische Sicherheit ausgehen: Die zunehmende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, illegaler Menschen- und Drogenschmuggel, illegale Migration und religiös motivierte extremistische Gewalt, sie alle haben ihren Ursprung zunehmend in den südlichen Gefilden des Mittelmeerraumes oder nutzen die dort liegenden Staaten sowie die See als Transitroute. Staaten wie Libyen, Syrien oder der Iran sind nicht erst seit 1990 bemüht, Massenvernichtungswaffen und die dazugehörigen Trägersysteme zu erwerben. Aber mit dem Ende der Blockkonfrontation haben diese Bemühungen an Geschwindigkeit gewonnen. Dass diese Staaten keine Probleme haben, diese Waffen auch einzusetzen, hat Libyen 1986 deutlich gemacht, als es eine Kurzstreckenrakete auf die italienische Insel Lampedusa abfeuerte. Diese Entwicklungen sind für die europäischen Staaten ein Risiko erster Ordnung.
Die strategischen Interessen der europäischen, insbesondere der südeuropäischen Staaten, sind relativ eindeutig zu identifizieren. Es geht ihnen in erster Linie darum, zu verhindern, dass aus potenziellen Risiken akute Bedrohungen werden. Deshalb betreiben sie eine kooperative Eindämmungspolitik, um zusammen mit den südlichen Mittelmeeranrainern die Risiken zu bekämpfen. Damit wollen die Europäer den Staaten des Maghreb (Marokko, Tunesien, Algerien) und des Nahen Ostens vermitteln, dass sie diese nicht als Sicherheitsrisiko betrachten, sondern dass die im Mittelmeerraum existierenden Bedrohungen Risiken für beide Seiten darstellen. Deshalb haben die südeuropäischen Staaten in der Nato auf die Einrichtung des Mediterranean Dialogues (MD) und in der EU auf die Gründung der Euro-Mediterranen Partnerschaft gedrängt.
Im militärischen Bereich erfolgt die Zusammenarbeit durch gemeinsame Manöver und Übungen im Rahmen des Mediterranean Dialogue. Auch die Nato-Operation Active Endeavour (OAE, "Aktive Bemühung") ist Teil dieser Zusammenarbeit. Vorrangiges Ziel der Anti-Terrorismus-Operation ist es, mögliche Terroranschläge gegen zivile Schiffe im Mittelmeerraum zu verhindern und gegen unterseeische Versorgungslinien vorzugehen. Nicht weniger wichtig ist es jedoch, durch die Einbeziehung der südlichen Mittelmeeranrainer das Bewusstsein bei diesen zu schärfen, dass Terrorismus eine gemeinsame Bedrohung ist. Ob die Operation Active Endeavour dazu beigetragen hat, Terroristen von Anschlägen auf hoher See abzuschrecken, ist umstritten. Bislang sind solche Anschläge auf hoher See jedenfalls ausgeblieben.
Die Vereinigten Staaten betrachten den Mittelmeerraum als einen strategischen Raum, in dem es gilt, mögliche militärische Risiken für die Sicherheit amerikanischer Truppen in Europa abzuwenden. Gleichzeitig dient es als potenzielles Aufmarschgebiet, um in Konflikte im Nahen Osten sowie im Persischen Golf zu intervenieren. In den meisten militärischen Operationen der vergangenen 20 Jahre (Golfkrieg 1991, Bosnien-Herzegovina, Kosovo und Golfkrieg 2003) kam der Sechsten Flotte der Amerikaner, die im Mittelmeer stationiert ist, eine zentrale Rolle zu: Von ihrem Flugzeugträger nahmen die Bombardierungen ihren Ausgang, von ihren Schiffen konnten Marschflugkörper, die cruise missiles, auf gegnerische Ziele abgefeuert werden. Gleichzeitig sind die Amerikaner noch immer bestrebt, der russischen Flotte den permanenten Zugang zum warmen Wasser zu erschweren. Nicht zuletzt bildet die Präsenz der Sechsten Flotte im Mittelmeerraum das Rückgrat der amerikanischen Sicherheitsgarantie für Israel. Deshalb bleibt diese Flotte der US Navy auch weiterhin dauerhaft im Mittelmeerraum stationiert.
Doch Russland hat seine Bestrebungen, einen permanenten Ankerplatz im Mittelmeerraum zu erhalten, nicht aufgegeben. Das zeigt sich deutlich an den russischen Bemühungen, die syrischen Häfen Tartus und Latakia so auszubauen, dass sie für tieferliegende Schiffe befahrbar sind. Die Arbeiten in Tartus sind bereits in vollem Gang und sollen bis Ende 2011 abgeschlossen werden. In Latakia sollen die Arbeiten im kommenden Jahr beginnen. Russischen Quellen zufolge soll in einigen Jahren eine Flottengruppe permanent im Mittelmeerraum stationiert werden. Diese soll einerseits den russischen Einfluss im Nahen Osten erhöhen und auf der anderen Seite mit der Nato-geführten Operation Active Endavour zusammenarbeiten.
Für Rußland ist die permanente Rückkehr ins warme Wasser von zentraler Bedeutung: Ohne Basis im Mittelmeer, ohne Anlaufhäfen im Mittelmeerraum ist die russische Flotte nur eingeschränkt handlungsfähig. Aufgrund der sogenannten Montreaux-Konvention von 1936 muss sie jede Durchfahrt militärischer Schiffe vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer und in die andere Richtung der Türkei acht Tage vorher melden. In Kriegszeiten kann die Türkei die Durchfahrt militärischer Schiffe genehmigen oder ablehnen. Alternative Routen zum Mittelmeer sind zeitintensiver und bringen die russische Marine in einen strategischen Nachteil, wenn Truppen schnell in die Region verlegt werden sollen. Denn die Sechste Flotte der Amerikaner ist ständig dort.
Durch seine Präsenz im Mittelmeerraum will Russland außerdem den amerikanischen Einfluss im Nahen Osten ausbalancieren. Denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Rußland als Ordnungsmacht im Nahen Osten ausgeschieden. Auch die russischen Rüstungsexporte in die Region haben drastisch abgenommen. Seit geraumer Zeit ist man in Moskau darum bemüht, diese Entwicklung zu korrigieren. Russland, so das eigene Selbstverständnis, muss im Nahen Osten eine stärkere wirtschaftliche und politische Rolle einnehmen: Die ökonomischen Interessen der russischen Industrie, insbesondere der Rüstungs- und der Gas- und Ölindustrie sollen besser wahrgenommen werden. Die arabischen Staaten sollen eine Möglichkeit bekommen, eine Gegenmacht zu Israel aufzubauen. Russlands Rückkehr als Akteur im Nahen Osten könnte durch die Präsenz der russischen Marine im Mittelmeerraum militärisch unterfüttert und dadurch glaubwürdiger werden.
Heute ist die strategische Situation im Mittelmeerraum dennoch von weniger harten militärischen Risiken geprägt als in Zeiten des Ost-West-Konfliktes. Die größten Bedrohungen sind nicht militärischer Art, sondern gehen von illegaler Migration sowie Menschen- und Drogenschmuggel aus.
Wie sich die militärische Situation im Mittelmeerraum entwickelt, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie sich die russische Politik in diesem Weltmeer entwickeln wird. Sollte Russland einen konfrontativen Kurs gegenüber der Nato einschlagen, dann ist nicht auszuschließen, dass der Mittelmeerraum erneut zu einem Brennpunkt einer militärstrategischen Auseinandersetzung mit den USA und gegebenenfalls auch den Nato-Verbündeten wird. Momentan ist dies jedoch eher unwahrscheinlich, da Russland seine Kooperationsbereitschaft gegenüber der Nato im Mittelmeer durch seine Zusage an einer Beteiligung an der Operation Active Endeavour hervorhebt. Auch ist es angesichts des desolaten Zustandes der russischen Marine momentan relativ schwierig vorstellbar, dass Rußland im Mittelmeerraum einen militärischen Konfrontationskurs gegen die Sechste Flotte einschlagen würde.
Sollten allerdings die Vereinigten Staaten oder Israel - mit der Unterstützung der USA - gegen den ausdrücklichen Willen Russlands militärische Schläge gegen das Atomprogram des Irans durchführen, ist nicht auszuschließen, dass Russland zu einer allumfassenden Konfrontationspolitik gegen die USA und ihre Verbündeten im Nahen Osten übergehen könnte, bei der dann der Mittelmeerraum, wie zur Zeit des Ost-West-Konfliktes, wieder eine zentrale Rolle spielen könnte.
Der Autor ist Professor für internationale Politik an der
Universität der Bundeswehr in München.