Bürgerkriege in Afrika stellen die internationale Staatengemeinschaft vor große Herausforderungen. Sehr häufig überlagern sich diverse transnationale, nationale und lokale Konfliktkonstellationen. Die Analyse der gesellschaftlichen Strukturen kann die Bedeutungszusammenhänge erklären, in die Gewaltdynamiken, Handlungslogiken und Gewaltlegitimationen der Milizionäre eingewoben sind. Von zentraler Wichtigkeit sind Maskulinitätskonzepte sowie Geschlechter- und Generationenkonflikte. Eine Auseinandersetzung mit diesen Kontexten bietet neue Perspektiven für die Kontroversen über "Neue Kriege".
Nach einer anfänglichen Euphorie über das Konzept der "Neuen Kriege" entwickelte sich alsbald eine wissenschaftliche Debatte über Begriffe und Modelle zu den Entstehungsbedingungen, Ursachen, Formen und Gewaltpraktiken in Kriegen. Obwohl die Kritiker ähnlich wie die Befürworter vorrangig Politikwissenschaftler sind, fordern sie, den Meinungsstreit nicht auf Kennzeichen wie Entstaatlichung, Privatisierung, Asymmetrie und Kommerzialisierung zu beschränken. Einige schlagen vor, sowohl die spezifische Kombination dieser Merkmale "Neuer Kriege" als auch das gesamte Konzept zu hinterfragen. So soll der Fokus auf die Multidimensionalität von Kriegen und auf kriegerische Gewaltdynamiken ausgeweitet werden, wobei die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen und politischen Faktoren sowie den damit verbundenen Handlungslogiken unterschiedlicher Gewaltakteure und Akteursgruppen zu erfassen seien. 1 Sowohl bei diesem Ansatz als auch bei den Überlegungen zur nachhaltigen Friedenskonsolidierung, konstruktiven Konfliktbearbeitung und Konfliktprävention wird angemahnt, den Blick stärker auf die Vielschichtigkeit konkreter Kriegskontexte zu richten. Auf diese Weise sollen eurozentrische Grundannahmen und Vorurteile revidiert und das Verständnis für die spezifischen Konfliktkonstellationen sowie deren Dynamiken verbessert werden.
Diese Vorschläge motivieren dazu, Gesellschaften in Kriegen genauer zu untersuchen und nicht nur von einer anonymen Masse malträtierter Kriegsopfer auszugehen, aus denen höchstens die Kindersoldaten hervorstechen. Diese werden häufig als homogene Gruppe und als passive Opfer skrupelloser Warlords dargestellt. Die Realität ist aber vielerorts weitaus komplexer und paradoxer, zumal es sich keineswegs nur um Kinder, sondern vor allem um Jugendliche handelt, die sowohl Gewaltopfer als auch Täter sind und von denen sich viele wegen ihrer Macht oder des Zwangs zu töten als Erwachsene verstehen.
Das betrifft auch zahllose Mädchen, die als Sex-Sklavinnen zwangsrekrutiert werden und sich an Folterungen und Morden beteiligen müssen. Die aktuelle Geschlechterforschung leistet wichtige Beiträge zur kontextspezifischen Analyse solcher Gegensätze, die Idealisierungen von Frauen als Friedensstifterinnen und Geschlechterstereotypen von Männern als Killern widersprechen. 2 Ausgehend von Geschlechterkonzepten, die Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern mit sozio-ökonomischen Unterschieden und Alter in Beziehung setzen, können die Kriegsbeteiligung Jugendlicher sowie die Hintergründe und Folgen in unterschiedlichen gesellschaftlichen und zeitlichen Kontexten erklärt werden. 3 Besonders erhellend sind Studien, die Geschlechterhierarchien im umfassenden Sinn verstehen, indem sie Differenzen zwischen Frauen sowie zwischen Männern analysieren und daraus resultierende Konflikte im Zusammenwirken mit Religion, Ethnizität oder Nationalismus untersuchen. Im Unterschied zur Mehrzahl politikwissenschaftlicher Ansätze argumentieren etliche Gender-Forschungen nicht nur gegenwartsbezogen, sondern ziehen auch zeitliche Längsschnitte. Gerade weil sie Gewaltmuster und -dynamiken über längere Zeiträume untersuchen, bieten sie wichtige Impulse für Planungen zur Friedenskonsolidierung in Nachkriegsgesellschaften und Konzeptionen innovativer Präventionsstrategien. 4
Der Erkenntnisgewinn dieser Forschungsansätze soll hier am Beispiel Sierra Leones illustriert werden. Ein Grund für die Wahl dieses Landes ist der aktuelle Anlass, dass sich Charles Taylor, der frühere Warlord und Präsident Liberias, derzeit in Den Haag vor dem UN-Sondertribunal zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in Sierra Leone verantworten muss. Taylor wird beschuldigt, den Bürgerkrieg in Sierra Leone (1991 bis 2002) von Liberia aus angezettelt zu haben. Die Anklageschrift wirft ihm vor, für eine Vielzahl schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein, darunter die Zwangsrekrutierung von Kindersoldatinnen und -soldaten. Taylor hatte gemeinsam mit einigen Verbündeten aus Sierra Leone Jugendliche für die neu gegründete Guerillaorganisation Revolutionary United Front (RUF) zwangsrekrutiert und militärisch ausgerüstet. Die RUF sollte die demoralisierte sierra leonische Armee außer Gefecht setzen und das Land destabilisieren. Auf diese Weise wollte sich Taylor Zugang zu den dortigen Diamantenminen verschaffen.
In den vergangenen Jahren wurde das Kriegsgeschehen in Sierra Leone vielfach von Wissenschaftlern untersucht - allerdings weniger wegen der Kindersoldaten, sondern vor allem um den politikwissenschaftlichen Erklärungswert des Modells der "Neuen Kriege" zu prüfen. Schließlich tummelten sich in diesem von Staatszerfall, massiver Korruption, schamloser Ausbeutung der Diamantenminen, extremer Armut und sozialer Ungleichheit geprägten Land nicht nur kleinere und größere Warlords. Die Szene beherrschten auch zahlreiche Söldner international agierender Sicherheitsfirmen wie Executive Outcomes aus Südafrika oder Sandline International aus Großbritannien, multinationale Minenkonglomerate und ukrainische Waffen- und libanesische Diamantenhändler, die sowohl mit den Rebellen als auch mit der sierra leonischen Regierung gute Geschäfte machten - allen internationalen Sanktionen und Handelsembargos zum Trotz. Die internationale Öffentlichkeit wurde erst aufgeschreckt, als im November 2001 Berichte auftauchten, wonach neben den Milizen im Libanon auch Al-Qaida in den Diamanten- und Waffenhandel involviert war. 5
Diese Speerspitzen global agierender krimineller Netzwerke waren in guter Gesellschaft mit ECOMOG-Truppen 6 aus Nigeria, die ab 1997 gegen die regierungsfeindlichen RUF-Guerillas kämpften, jedoch selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt waren. Auch die über 17 000 Mann starken Friedenstruppen, die im Rahmen der UNAMSIL-Friedensmission (United Nations Mission in Sierra Leone) Ende der 1990er Jahre für ein Ende der Gewalt sorgen sollten, gerieten zwischen die Fronten. So wurden Anfang Mai 2000 mehr als 200 sambische UNAMSIL-Soldaten von Kindersoldaten gefangen genommen. 7 Für diesen Einsatz wurden bewußt afrikanische Truppen ausgewählt - nach dem Motto: Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme -, die jedoch schlecht ausgestattet und völlig unzureichend vorbereitet waren und wiederholt von schwer bewaffneten jugendlichen Guerillagruppen angegriffen wurden. Auch in diesem Fall galten die jungen Kombattanten nur als willige Vollstrecker von Warlord-Befehlen; nach ihren eigenen Kriegsmotiven fragte niemand.
Die in diesem Konflikt zu Tage tretende Gewaltbereitschaft war verstörend und führte zu vorschnellen Urteilen über Afrika als immerwährendem Hort der Anarchie und Barbarei - Vorstellungen, die unter anderem auch die US-amerikanische Afrikapolitik im Vorfeld des Genozids in Ruanda beeinflussten. 8 Hinter dieser "Maske der Anarchie" verbarg sich aber eine ganz eigene Handlungslogik der jugendlichen Kämpfer, die auf kulturelle Symbolsysteme Bezug nahm und der massive Geschlechter- und Generationenkonflikte zu Grunde lagen. 9 Diese Konflikte waren wiederum eng verwoben mit politischen Machtstrukturen und sozio-ökonomischen Entwicklungen.
Während sich in vielen Teilen des afrikanischen Kontinents Anfang der 1990er Jahre Demokratisierungsbewegungen erfolgreich durchsetzten und die allgemeine Aufbruchstimmung insbesondere die Hoffnungen junger Menschen auf eine bessere Zukunft beflügelte, blieben den Jugendlichen in Sierra Leone grundlegende Veränderungen zu ihren Gunsten versagt. 10 Polizei und Militär schlugen alle Proteste brutal nieder, die mehr Demokratie forderten und vor allem von jungen Männern getragen wurden. Seit der politischen Unabhängigkeit Sierra Leones 1961 hielten sich die jeweiligen Präsidenten vor allem durch Waffengewalt an der Macht; jeglicher Widerstand wie Studentenproteste gegen Patronage und Klientelismus wurde gewaltsam beendet. So bekamen junge Männer nur im massiven Einsatz von Sicherheitskräften zu spüren, dass es durchaus Relikte eines Staates gab.
Korrupte Regierungen trieben das rohstoffreiche Land in den ökonomischen Ruin und unternahmen nichts für den Aufbau oder Erhalt staatlicher Strukturen, die Infrastruktur sowie das Bildungs- und Gesundheitssystem verrotteten. Unter den Verhältnissen litten vor allem Kinder und Jugendliche; so war Sierra Leone über Jahre Spitzenreiter in den international vergleichenden Statistiken zu extremer Armut und zur Kinder- und Müttersterblichkeit. Gleichzeitig sorgten die Diamantengeschäfte für märchenhafte Gewinne, die allerdings am Staatshaushalt vorbei in die Taschen einiger weniger flossen.
Die Situation der ohnehin schon verarmten Landbevölkerung verschlechterte sich weiter, als die sierra leonische Regierung in den 1980er Jahren im Rahmen der vom internationalen Weltwährungsfond verhängten Strukturanpassungsmaßnahmen staatliche Dienstleistungen nahezu einstellte. Währenddessen brachen die Preise für Exportgüter wie Kaffee und Kakao auf dem Weltmarkt ein. Vor allem junge Menschen wurden jeglicher Zukunftsperspektiven beraubt. So war es für die RUF in den Anfangsjahren vergleichsweise einfach, junge Männer mit vagen Versprechungen auf ein besseres Leben zum Kampf gegen die korrupte Regierung zu mobilisieren. 11 Allerdings griffen die jungen Kombattanten nicht nur wegen Willkürherrschaft, Patronage und nicht-funktionierender staatlicher Institutionen zu den Waffen. Vielmehr förderten auch lokale Macht- und Ausbeutungsstrukturen ihre Kampfbereitschaft.
In ländlichen Gebieten waren junge Männer in jeder Hinsicht von der Gunst alter und einflussreicher Familienoberhäupter abhängig. Dies betraf vor allem den Landzugang und die Eheschließungen. Beides waren Grundvoraussetzungen für die gesellschaftliche Anerkennung als vollwertiger erwachsener Mann. Oft mussten sich die Jungen jahrelang auf den Feldern wohlhabender Landbesitzer verdingen und alte Männer heirateten junge Mädchen, mit denen junge unverheiratete Männer bereits geheime Liebesbeziehungen aufgebaut hatten. Oft lautete die Strafe für solchen Ehebruch: Jahrelange Zwangsarbeit auf den Feldern der Alten oder das Verbot, überhaupt eine Ehe schließen zu dürfen.
Für Konflikte zwischen Männern unterschiedlichen Status' und Alters sorgte auch die Tatsache, dass alle männlichen Jugendlichen eine mehrmonatige Initiation durchlaufen mussten, die als weitere Voraussetzung für die Anerkennung als Erwachsene galt. Alle Initianten wurden beschnitten und als rangniedrige Mitglieder in Lokalgruppen des traditionellen Männerbundes Poro aufgenommen, der weit verbreitet und politisch sehr einflussreich war. So mutmaßte die politische Elite in der sierra leonischen Hauptstadt Freetown, dass einzelne Poro-Leiter in politische Morde verwickelt waren. Poro-Leiter galten als Herren über Leben und Tod und als Vermittler zwischen Menschen- und Geisterwelt. Diese Macht nutzten die Poro-Leiter zur Disziplinierung junger Männer bei Initiationen. Nur ranghohe Jungen wurden teilweise in das Herrschaftswissen alter Poro-Leiter über die Geister und die Naturkräfte eingeweiht; der Mehrheit der Initianten blieb diese Welt verborgen.
Eigentlich sollten die gemeinsam erlittenen Schmerzen alle Beschnittenen vereinen - so die Ideale des Bundes. Faktisch verstärkte aber die Mannwerdung durch die Initiation und das Spannungsverhältnis zwischen Zugehörigkeit und Exklusion sowie die Hierarchie auf der Basis von Geheimnis und Unwissenheit sowohl die Konflikte zwischen Alt und Jung als auch zwischen Jungen unterschiedlicher Herkunft. Diese Ungleichheiten zwischen Männern resultierten aus der Geschichte des Landes, denn in Sierra Leone wurde über Jahrhunderte das System der Haussklaverei praktiziert, das die gesellschaftliche Schichtung verfestigte. Die sozialen Disparitäten wurden durch den transatlantischen Sklavenhandel intensiviert, von dem einzelne ranghohe lokale Autoritäten profitierten. 12 Im Zuge der Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei wollten britische Abolitionisten in Sierra Leone ein besonderes Zeichen setzen: Ab 1787 siedelten sie befreite Sklaven und Nachfahren freigelassener Sklaven aus Amerika, sogenannte Kreolen, in der eigens gegründeten Hafenstadt Freetown an. Deren Bevorzugung in Bildung, Wirtschaft und Politik sorgte immer wieder für Konflikte, die durch die Einsetzung neuer lokaler Autoritäten im Rahmen der Kolonialherrschaft im Landesinneren verstärkt wurden. Vor allem Ende des 19. Jahrhunderts wurden Proteste gegen die britische Kolonialmacht und Konflikte zwischen lokalen Machthabern blutig ausgetragen. Kennzeichnend für diese kriegerischen Auseinandersetzungen war der Einsatz junger, rangniedriger Männer als Kämpfer. Sie standen sowohl in der vorkolonialen Gesellschaft als auch in der Siedlerkolonie an unterster Stelle. Nur einzelne Söhne ranghoher ländlicher Autoritäten profitierten von den Patronagenetzen mit den Kreolen. Sie wurden zur Ausbildung in die Hauptstadt geschickt und der Obhut der kreolischen Elite unterstellt.
Die Entdeckung großer Diamantenvorkommen in den 1930er Jahren ermöglichte jungen, sozial marginalisierten Männern nur begrenzt ein besseres Leben, denn in den Diamantenminen etablierten lokale Landbesitzer rasch neue Ausbeutungsverhältnisse. Eheschließungen blieben für sie ein Problem, jedoch bauten die jungen Diamantenschürfer Beziehungen mit jungen Frauen auf, die vor alten gewalttätigen Ehemännern geflohen waren. Deren Macht und der ihrer älteren Mitfrauen in polygamen Ehen hatten sich die jungen Frauen unterzuordnen.
Dem Poro-Männerbund entsprach bei den Frauen der traditionelle Sande-Bund, der dafür sorgte, dass alle Mädchen genital beschnitten wurden und ihnen im Rahmen von vorehelichen Initiationen vermittelte, die soziale Hierarchie fraglos zu akzeptierten. 13 Ähnlich wie der Poro-Bund bevorzugten die Sande-Leiterinnen Mädchen aus landbesitzenden Familien und bildeten diese als ihre Nachfolgerinnen aus. Geheimes Wissen über Naturkräfte zählte zu den Privilegien der Bund-Leiterinnen; so waren ranghohe Sande-Frauen als Hebammen tätig und zwangen die Gebärenden bei komplizierten Geburten, ihre Liebhaber zu nennen. Die Hebammen gaben ihr Wissen über die geheimen Liebschaften an die betroffenen Ehemänner Preis, die mit Gewalt und drakonischen Strafen reagierten. Junge Frauen, die diesen Strukturen entflohen, versuchten ihre Partner in den Minenstädten selbst auszuwählen. Angesichts der auch dort vorherrschenden patriarchalen Strukturen blieben ihnen aber eigene wirtschaftliche Handlungsspielräume weitgehend verwehrt. Als die RUF Anfang der 1990er Jahre in großem Stil Jugendliche als Kämpfer mobilisierte, schlossen sich zunächst einige Mädchen und junge Frauen freiwillig den Kampfeinheiten an. Auch sie glaubten den Verheißungen auf ein besseres Leben, manche folgten ihren männlichen Partnern. Im Lauf des Krieges wurden immer mehr Kämpferinnen zwangsrekrutiert, so dass ihr Anteil rasch anstieg - laut mancher Schätzungen waren etwa ein Drittel aller RUF-Guerillas weiblich.
Wie in vielen anderen Guerilla-Kriegen wurden die Kombattantinnen vor allem für Trägerdienste, Nachrichtenübermittlung, Spionage, Plünderungen, Folterungen von Gegnern, Versorgungsleistungen und die Pflege von Verwundeten eingesetzt. Zwar waren sie bewaffnet und auch immer wieder an Angriffen beteiligt, doch blieben ihnen militärische Führungsfunktionen mehrheitlich vorenthalten. Trotz ihrer sozialrevolutionären Parolen war der in der sierra leonischen Politik verbreitete Klientelismus auch für die RUF strukturprägend. Folglich verhielten sich die fast ausnahmslos jugendlichen Kommandanten wie mächtige alte Männer. Häufig übernahmen besonders gewaltbereite Kindersoldaten Führungsposten. Als neue Herren über Leben und Tod vertrieben oder ermordeten sie mancherorts die Leiter des Poro-Männerbundes. Allerdings befolgten sie bei wichtigen strategischen Entscheidungen die Anweisungen der Warlords und deren Hintermänner, die sie mit Waffen, Munition und Drogen versorgten. Während die RUF die Altershierarchie zwischen Männern durchbrach und vorgab, gerade sozial marginalisierten Jugendlichen zu helfen, schrieb sie gleichzeitig patriarchale Geschlechterverhältnisse fest.
So nahm die RUF Frauen und Mädchen als Sex-Sklavinnen gefangen; manche von ihnen erklärten die Kommandanten zu "Bush-Wives", also zu Ehefrauen. Wie die alten, einflussreichen Männer bauten sie polygame Haushalte auf, wobei sie auf die Hierarchie unter den Frauen achteten. Diese Rangfolgen erschwerten die Solidarität zwischen den Frauen und Mädchen. Die weniger privilegierten unter ihnen wurden als Sex-Sklavinnen benutzt, um den Zusammenhalt der Kombattanten zu festigen und sie für erfolgreiche Kampfeinsätze zu belohnen. Um den Massenvergewaltigungen zu entgehen und ihre Existenz zu sichern, versuchten einige junge Mädchen, den vergleichsweise bevorzugten Status als "Bush-Wife" zu erwerben. Jedoch war dieser Status fragil, weil etliche Kämpfer ihre Partnerinnen verstießen oder bei Gefechten starben.
Bei Überfällen auf Dörfer wurden Mädchen und junge Frauen oft öffentlich vergewaltigt und anschließend zwangsrekrutiert. Weibliche Familienangehörige angeblicher Feinde wurden bevorzugt malträtiert. Durch die öffentlichen (Massen)Vergewaltigungen griffen die Täter das maskuline Selbstbild der jeweiligen männlichen Familienangehörigen an, die in ihrer Wehrlosigkeit als Versager verhöhnt wurden. RUF-Kämpfer vergewaltigten auch Männer, um sie zu entmännlichen. Ebenso wurden sie gelegentlich von RUF-Kombattantinnen sexuell misshandelt. So war sexualisierte Gewalt eine verbreitete Kriegstaktik, um den familiären und sozialen Zusammenhalt der jeweiligen Feinde langfristig zu brechen. Dazu ordneten RUF-Kommandanten auch Inzesthandlungen an, die als absolutes kulturelles Tabu und als Verrat an den Ahnen galten. In der Folge hatten die dazu gezwungenen Jungen, die anschließend als RUF-Kämpfer zwangsrekrutiert wurden, keine Chance, zu ihren Familien zurückzukehren. Während der langen Kriegsjahre wurden sie selbst zu Gewaltakteuren, wobei die RUF als Sozialisationsinstanz wirkte.
Die RUF hatte gegenüber der sierra leonischen Armee leichtes Spiel. Während des Krieges kam es wiederholt zu Putschen und etliche Soldaten wechselten mehrfach die Fronten. Der lukrative Diamantenschmuggel verschaffte der RUF zudem gute Einnahmen. Wiederholt scheiterten Friedensverhandlungen und die internationale Staatengemeinschaft unternahm jahrelang keine Anstrengungen zur Konfliktbeilegung. Erst im Oktober 1999 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1270 als Grundlage für die UNAMSIL-Friedensmission mit zunächst 6000, später über 17 000 Blauhelmsoldaten. Etliche von ihnen trumpften in ihrer Freizeit mit besitzergreifendem Sexualverhalten gegenüber der lokalen männlichen Bevölkerung auf, was vor allem junge Männer als Affront wahrnahmen. 14 Zu sexuellen Kontakten mit Blauhelmsoldaten sahen sich insbesondere sozial marginalisierte frühere RUF-Kämpferinnen gezwungen. Sie erhielten keinen Zugang zu den Demobilisierungsprogrammen, weil RUF-Kommandanten ihnen die Waffen abnahmen. Diese wollten nicht als Anführer von Frauen und Kindern gelten und fühlten sich durch die eigene Entwaffnung in ihrem männlichen Selbstbild angegriffen.
Zahllose Frauen und Mädchen, die vergewaltigt worden waren, wurden von ihren Familien fortgeschickt. Vor allem die männlichen Verwandten wollen nicht an das eigene Versagen erinnert werden. Kinder, die bei den Vergewaltigungen gezeugt worden waren, wurden als Bedrohung der familiären Erbfolge wahrgenommen. 15 Darüber hinaus zwangen alte einflussreiche Frauen ehemalige Kämpferinnen zu genitalen Beschneidungen. In Übereinstimmung mit alten ranghohen Männern, die rechtzeitig geflohen waren und den Krieg überlebt hatten, verlangten sie die Rückkehr zu den Traditionen, da nur so die soziale Ordnung wieder aufgebaut werden könne. Solche Einschätzungen führender Sande- und Poro-Bundleiter bestärkten zahllose Männer, fortan gewaltsam ihre Vormachtstellung gegenüber ihren Partnerinnen durchzusetzen.
Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft wurden mehrheitlich enttäuscht. Während der Demobilisierung und Reintegration wurde es versäumt, gewaltgeprägte Männlichkeitsvorstellungen zu ändern. Zahllose demobilisierte Kombattanten nutzten Gewalt weiterhin als Machtbeweis - insbesondere gegenüber Frauen. Mancherorts eignen Vertreter der alten Elite sich Entwicklungsgelder an, weil Hilfsorganisationen in Unkenntnis der lokalen Hierarchien mit ihnen kooperieren. So sind Nepotismus und Korruption auch beim Wiederaufbau staatlicher Institutionen erneute Strukturprobleme. Nur einzelne zivilgesellschaftliche Gruppen prangern die Fortsetzung von Machtmissbrauch und Gewalt an. Sie haben aber einen schweren Stand.
Die übereilt eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission und das Sondertribunal trugen nur ansatzweise zur erhofften Aufdeckung der Gräueltaten oder zur Bestrafung von Kriegsverbrechern bei. Bloß wenige geschlechtsspezifische Gewaltakte wurden strafrechtlich verfolgt. Mangels Alternativen sind viele junge Männer gezwungen, sich als schlecht bezahlte Diamantenschürfer zu verdingen, als Kleinkriminelle in den Städten ihre Existenz zu sichern oder als Söldner in einem Nachbarland weiterzukämpfen.
In Sierra Leone zeigt sich beispielhaft, wie notwendig es ist, sexualisierte Kriegsgewalt umfassend aufzuarbeiten und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Zudem müssen neue, kulturell angepasste Foren für Männer unterschiedlichen Alters und Status' etabliert werden, um Maskulinität jenseits besitzergreifender Sexualität, umfassender Dominanzansprüche, Gewaltbereitschaft und ausgeprägter Hierarchien zu definieren. 16 Nur so kann verhindert werden, dass kriegerische Gewaltmuster in Nachkriegsgesellschaften übernommen und von neuen Kriegstreibern wieder gewaltsam aufgeladen werden.
Das Fallbeispiel Sierra Leone illustriert auch, dass detaillierte Analysen der Geschlechterhierarchien, die insbesondere die Machtverhältnisse zwischen Männern untersuchen und diese systematisch mit gesellschaftlichen Strukturen, historischen Kontexten sowie mit politischen und ökonomischen Entwicklungen in Beziehung setzen, neue Impulse für ein differenziertes Verständnis von Kriegen und die Debatte über "Neue Kriege" geben können.
1 Zur Debatte
über "Neue Kriege" siehe: Siegfried Frech/Peter Trummer
(Hrsg.), Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie,
Schwalbach 2005.
2 Vgl. Tsjeard Bouta/Georg Frerks/Ian
Bannon, Gender, conflict and development, Washington D.C.
2005.
3 Zur zentralen Rolle von Jugendlichen
in anti-kolonialen Unabhängigkeitskriegen im südlichen
Afrika und der Bedeutung von Geschlechterfragen siehe: Periplus, 12
(2002); insbesondere: Barbara Müller, Der falsche Zeitpunkt,
in: ebd., S. 35 - 59.
4 Vgl. Megan Bastick/Karin Grimm/Rahel
Kunz, Sexual violence in armed conflict. Global overviews and
implications for the security sector, Geneva 2007.
5 Vgl. William Reno, Political networks
in a failing state. The roots and future of violent conflict in
Sierra Leone, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 2
(2003), S. 44 - 66.
6 Economic Community of West African
States Monitoring Group - eine von der Wirtschaftsgemeinschaft
Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) aufgestellte multinationale
Eingreiftruppe.
7 Vgl. UN-Missionen. In Afrika
entschlossen auftreten. Interview mit Manfred Eisele, in:
Entwicklung und Zusammenarbeit, 41 (2000) 9, S. 254 - 255.
8 Vgl. Rosalind Shaw, Robert Kaplan and
"Juju journalism" in Sierra Leone's rebel war, in: Birgit
Meyer/Peter Pels (eds.), Magic and modernity. Interfaces of
revelation and concealment, Stanford 2003, S. 81 - 100.
9 Zur Handlungsrationalität der
jugendlichen Kombattanten und zum Kriegsimperium von Charles Taylor
siehe die Studie des Politikwissenschaftlers Stephen Ellis, The
mask of anarchy, London 2007.
10 Vgl. Christoph Marx, Geschichte
Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2004.
11 Vgl. Paul Richards, Fighting the
rain forest. War, youth and resources in Sierra Leone, Oxford
1996.
12 Zu den langfristigen traumatischen
Folgen von Sklaverei und Sklavenhandel für die sierra
leonische Gesellschaft siehe Rosalind Shaw, Memories of the slave
trade. Ritual and the historical imagination in Sierra Leone,
Chicago 2002.
13 Vgl. Rita Schäfer, Frauen und
Kriege in Afrika, Frankfurt/M. 2008, S. 218.
14 Vgl. Paul Higate, Gender and
peacekeeping. Case studies: The Democratic Republic of Congo and
Sierra Leone, Institute for Security Studies (ISS) Monograph,
Pretoria 2004.
15 Schätzungen bezifferten die im
Krieg vergewaltigten Frauen und Mädchen landesweit auf 215 000
bis 270 000. Mindestens 90 000 wurden mit HIV infiziert. Über
20 000 Kinder wurden durch Vergewaltigungen gezeugt. Siehe hierzu
Human Rights Watch, "We'll kill you if you cry". Sexual violence in
the Sierra Leone conflict, Human Rights Watch Publications, 15
(2003) 1 (A), New York 2003; Amnesty International, Sierra Leone:
Rape and other forms of sexual violence against women and girls,
AFR 51/035/2000, London 2000.
16 Siehe hierzu das Sonke Gender
Justice Network in Südafrika und in anderen afrikanischen
Ländern: www.genderjustice.org.za (28.9. 2009).