Jede neue Regierung tritt mit dem Versprechen an, für mehr "soziale Gerechtigkeit" zu sorgen. Auch wenn der Begriff im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP explizit gar nicht vorkommt - die Rede ist von "Generationen-" "Leistungs-" und "Beitragsgerechtigkeit" -, so schwingt er doch an vielen Stellen "zwischen den Zeilen" mit. Die angekündigten steuerlichen Entlastungen etwa versprechen den Bürgerinnen und Bürgern auf den ersten Blick viel, doch sind sie deswegen auch "sozial gerecht"?
Gerechtigkeit ist keine objektive, messbare Größe. Was gerecht ist und was nicht, liegt im Auge des Betrachters bzw. an den Maßstäben, die er oder sie anlegt. Ist also die erbrachte Leistung die entscheidende Kategorie oder der Bedarf? Selbst hierauf werden Viele antworten: "Je nachdem". Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass für verschiedene Bereiche unterschiedliche, mitunter sogar widersprüchliche Gerechtigkeitsprinzipien zugrunde gelegt werden. So haben auch die politischen Parteien divergierende Konzepte von sozialer Gerechtigkeit und führen den Terminus zuweilen als "Kampfbegriff" ins Feld. Es ist kaum möglich, mit einer derart aufgeladenen Vokabel Politik sachlich zu bewerten.
Unabhängig vom subjektiven Gerechtigkeitsempfinden sind wachsende Ungleichheiten in der Gesellschaft empirisch und objektiv nachweisbar - der Abstand zwischen Arm und Reich wird in Deutschland immer größer. Dies ist nicht automatisch mit "mehr Ungerechtigkeit" gleichzusetzen - doch für den sozialen Frieden ist es von großer Bedeutung, wie die Bevölkerung soziale Ungleichheiten wahrnimmt. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Integration der EU ist dies ein Thema, das auch auf europäischer Ebene eine größere Rolle spielen und die Sozialpolitik der einzelnen Staaten zunehmend beeinflussen wird.