In den vergangenen Jahren ist in Deutschland ein deutlicher Anstieg der Einkommens- und Vermögensungleichheiten zu verzeichnen. Einerseits müssen die unteren zehn Prozent der Einkommensbezieher stagnierende oder gar rückläufige Reallöhne hinnehmen und es wächst der Anteil derer, die trotz Erwerbstätigkeit nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu decken. 1 Andererseits verdienen die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher zunehmend besser und verfügen mittlerweile über fast zwei Drittel des Gesamtvermögens. Für Viele spiegelt sich in dieser Entwicklung nicht nur eine "soziale Schieflage" wider, sondern sehen in ihr einen Ausdruck zunehmender sozialer Ungerechtigkeiten: Ungleichheiten im Steuersystem, ungleiche Bildungschancen, Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung etc. Handelt es sich in all diesen Fällen tatsächlich um Beispiele sozialer Ungerechtigkeit?
Nicht notwendigerweise! Denn es gibt zum einen unterschiedliche Vorstellungen darüber, was als gerecht oder ungerecht zu bezeichnen ist. So sind hohe Einkommensungleichheiten nur dann ungerecht, wenn man soziale Gerechtigkeit als Ergebnisgleichheit versteht, also jeder das Gleiche bekommen sollte. Einkommensungleichheiten können aber auch sozial gerecht sein, wenn man der Ansicht ist, dass die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft die individuelle Leistungsfähigkeit widerspiegeln sollte. In beiden Fällen beruft man sich auf Gerechtigkeit, kommt aber jeweils zu einem anderen Urteil.
Zum anderen kann der Standpunkt vertreten werden, dass bestimmte Ungleichheiten überhaupt nicht Gegenstand von Gerechtigkeitserwägungen sein können. Dies gilt etwa für die Verteilung von Einkommen und Vermögen in einer Marktwirtschaft. Da hier Preise das Ergebnis von Markttransaktionen sind, die sich jeweils aus den Bedingungen von Angebot und Nachfrage ergeben, werden sie weder durch eine zentrale Instanz festgelegt noch kann man Ansprüche auf ein bestimmtes Preisniveau geltend machen. Beides, die Möglichkeit Verantwortung zuschreiben und Ansprüche geltend machen zu können, sind jedoch Voraussetzungen für eine Anwendung des Maßstabs der Gerechtigkeit. Wenn dies nicht möglich ist, können die resultierenden Verteilungen weder gerecht noch ungerecht sein, es ist dann allenfalls Unglück, wenn man auf den Märkten nicht die erhofften Gewinne erzielt.
Ungleichheiten sind somit nicht per se ungerecht und auch nicht immer im Namen der sozialen Gerechtigkeit zu korrigieren. Wer herausfinden will, wann etwas gerecht oder ungerecht ist, kann grundsätzlich zwei Wege gehen: einen normativen und einen empirischen. Wählt man den normativen Weg, so sucht man Antworten darauf, was wir tun sollen, was die Gerechtigkeit fordert und was von einem moralischen Standpunkt aus gerecht oder ungerecht ist. Dies ist Gegenstand der Philosophie und der politischen Theorie. Wählt man hingegen den empirischen Weg, will man wissen, was tatsächlich in einer Gesellschaft als gerecht oder ungerecht gilt, warum Menschen bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen haben und was daraus in ihrem Verhalten folgt. Dies ist Gegenstand der empirischen Gerechtigkeitsforschung.
Dieser Beitrag stellt aus Sicht der empirischen Gerechtigkeitsforschung dar, welche Vorstellungen sich mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit verbinden. Dazu werden einige zentrale begriffliche Unterscheidungen und empirische Befunde vorgestellt. Abschließend wird auf mögliche gesellschaftliche Ursachen für einen Wandel des Verständnisses sozialer Gerechtigkeit hingewiesen.
Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zielen immer auf die Frage, wie Rechte, Positionen, materielle und immaterielle Güter in einer Gesellschaft verteilt werden sollen. Ausgangspunkt sind Konflikte darüber, wer was und wie viel erhalten soll. Da in einer Gesellschaft nicht nur Güter, sondern auch Lasten verteilt werden müssen, gibt es immer auch Konflikte darum, wer in welchem Ausmaß Einschränkungen in Kauf nehmen muss. Die formale Forderung der Gerechtigkeit zielt darauf ab, diese Konflikte durch eine unparteiische Anwendung allgemeiner Regeln zu lösen, so dass niemand benachteiligt wird. Dies gilt insbesondere in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen, das allen Bürgerinnen und Bürgern die gleichen Rechte zubilligt. Der Staat trifft über die Gesetzgebung und über die Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen Verteilungsentscheidungen und übt so Herrschaft aus. Diese Herrschaftsausübung muss in ihren einzelnen Entscheidungen begründet und in Einklang mit den individuellen Freiheitsrechten sein. Empirisch zeigt sich, dass Ungleichheiten erst dann als ungerecht wahrgenommen und benannt werden, wenn die Verteilung durch ein absichtsvolles Handeln oder Unterlassen herbeigeführt wurde und die verantwortlichen Akteure keine ausreichende Rechtfertigung für die Verletzung legitim angesehener Anrechte vorlegen können. 2
Wenn mit der sozialen Gerechtigkeit normative Erwartungen an die gesellschaftliche Verteilung von Gütern und Lasten formuliert werden, so ist dies historisch gesehen ein vergleichsweise junges Phänomen. Denn erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird soziale Gerechtigkeit zu einer in den politischen Auseinandersetzungen gebrauchten programmatischen Forderung. Dies ist unmittelbar verknüpft mit dem Ausbau der europäischen Wohlfahrtsstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Wohlfahrtsstaat übernimmt fürsorgende Aufgaben, die vorher der Familie zufielen (z.B. Versorgung im Krankheitsfall oder im Alter) und es wird von ihm erwartet, bei einem Versagen der Märkte - insbesondere des Arbeitsmarktes - kompensierend einzugreifen. Er übernimmt für seine Mitglieder eine "Ausfallbürgschaft", das heißt, er gewährt bei unverschuldeten Notlagen wie Krankheit oder Erwerbsunfähigkeit eine Absicherung. Zugleich wird die Gesellschaft als ein Kooperationszusammenhang verstanden und ihren Mitgliedern ein Anrecht auf die Früchte dieser Zusammenarbeit zugestanden, was zugleich an die Erwartung gekoppelt ist, entsprechende Beiträge zur allgemeinen Wohlfahrt zu leisten.
Eine zentrale Funktion kommt dabei der Idee der sozialen Gerechtigkeit zu. Sie besagt, dass es bei der Verteilung von Gütern und Lasten zu keiner systematischen Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Gruppen kommen soll (Unparteilichkeit), die bestehenden Verteilungsregeln für alle gleich angewandt werden sollen (Gleichheitsgrundsatz) und der Einzelne als legitim angesehene Anrechte geltend machen kann. Während in den 1960er und 1970er Jahren soziale Gerechtigkeit primär mit der (Um-)Verteilung von Einkommen und Vermögen gleichgesetzt wurde, wird das ihr zugrunde liegende Verteilungsproblem mittlerweile breiter verortet. Es geht nun um eine gerechte Verteilung von Chancen, also den Möglichkeiten, seine eigenen Lebenspläne zu verwirklichen. Dies umfasst nicht nur die materielle Absicherung oder einen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand, sondern vor allem auch den Zugang zu Bildung, Kultur und die Ermöglichung politischer Teilnahme.
In modernen Gesellschaften werden individuelle Lebenschancen, Güter und Lasten zu einem großen Teil in und über gesellschaftliche Institutionen verteilt. Maßgeblich sind dabei die sozialen Sicherungssysteme, die Rechtsprechung und das Erwerbssystem, und vor allem das Bildungssystem und das Gesundheitswesen. Sowohl die bloße Existenz einzelner Institutionen und der Grad ihrer Regulierung (z.B. die Rentenversicherung, das dreigliedrige Bildungssystem oder der Arbeitsmarkt) als auch die in ihnen wirksamen Verteilungsmodi (z.B. wer kann welche wohlfahrtsstaatlichen Leistungen beanspruchen und wer muss welche Beiträge zahlen) sind Ausdruck bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen. 3 Die inhaltlichen Auffassungen darüber, was als "sozial gerecht" gilt, lassen sich in der Rechtsprechung und den Grundstrukturen der gesellschaftlichen Institutionen ablesen. Mindestens vier Prinzipien können benannt werden: 4 Gleichheitsprinzip: Es fordert, jedem gleiche Rechte oder den gleichen Anteil an Gütern und Lasten zuzuweisen. Abgeleitet davon ist das Prinzip der Chancengerechtigkeit, das fordert, jedem - unabhängig von Herkunft und nicht selbst verantworteten Einschränkungen - möglichst gleiche Chancen beim Zugang zu Gütern oder Positionen zu gewähren. Leistungsprinzip: Es verlangt die Belohnung individueller Anstrengungen und Leistungen, durchaus mit dem "Nebengedanken" Leistungsanreize zu schaffen. Anrechtsprinzip: Insbesondere die bundesdeutschen sozialen Sicherungssysteme folgen dem Prinzip der zugeschriebenen oder erworbenen Anrechte. Hier sind es nicht aktuell erbrachte Leistungen, sondern an Status- und Positionsmerkmale gekoppelte Anrechte, die in der Vergangenheit erworben wurden oder aufgrund der Tradition und den darin wirksamen Normen zugeschrieben werden. Bedarfsprinzip: Das Ziel ist die Sicherung einer minimalen oder "angemessenen" Deckung von Grundbedürfnissen.
Die Institutionen einer Gesellschaft sind historisch gewachsene Ordnungen und die in ihnen eingelassenen Gerechtigkeitskonzeptionen beeinflussen die in der Bevölkerung bestehenden Vorstellungen von Gerechtigkeit. Zugleich sind die institutionellen Ordnungen Ergebnis politischer Entscheidungsprozesse - die zu den jeweiligen Zeitpunkten von den Akteuren als geboten oder mehrheitsfähig angesehenen Gerechtigkeitskonzeptionen fließen in die Gestaltung der Institutionen ein. Es kann somit im Zeitverlauf zu "Ungleichzeitigkeiten" kommen, nämlich dann, wenn die in den Institutionen verankerten Gerechtigkeitskonzeptionen ihre Mehrheitsfähigkeit verloren haben. Dementsprechend ist es notwendig, bei der Frage, was als sozial gerecht gilt, auch die in einer Gesellschaft aktuell vertretenen Gerechtigkeitsvorstellungen zu berücksichtigen.
Die empirische Gerechtigkeitsforschung zeigt, dass Gerechtigkeit nicht nur daran bemessen wird, wie Güter und Lasten tatsächlich verteilt sind. Wichtig ist auch, wie die einzelnen Verteilungsergebnisse zustande kommen und wie jeder Einzelne von den gesellschaftlichen Institutionen behandelt wird.
Deshalb sind es vier Aspekte, die entscheidend sind: Zunächst sind dies die Tauschgerechtigkeit (kommutative Gerechtigkeit), bei der der Ausgleich erbrachter Leistungen im Zentrum steht, sowie die Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit), bei der es um die Verteilung der Anteile an etwas Gemeinsamem geht. Neben diesen beiden "klassischen" Formen der Gerechtigkeit weisen die empirischen Befunde auf zwei weitere hin: die Verfahrensgerechtigkeit (prozedurale Gerechtigkeit), bei der es um die Einhaltung von Fairnessregeln im Rahmen von Entscheidungsprozessen geht und die interpersonale bzw. Interaktionsgerechtigkeit, bei der die Frage im Mittelpunkt steht, ob die beteiligten Personen sich gegenseitig fair behandeln. Die Regeln der Verfahrens- und Interaktionsgerechtigkeit - Gleichbehandlung, Mitsprachemöglichkeit oder Transparenz der Entscheidungsprozesse - sind allgemein, also auch über kulturelle Grenzen hinweg anerkannt, und ihrer Einhaltung wird hohe Priorität zugemessen. Denn unvorteilhafte Verteilungsergebnisse werden eher akzeptiert, wenn sie aus gerechten Entscheidungsverfahren resultieren.
Wenn es um die konkreten Regeln geht, wie Güter oder Lasten verteilt werden sollen, so greifen Individuen auf die bereits genannten Gerechtigkeitsprinzipien zurück (Gleichheits-, Leistungs-, Anrechts- und Bedarfsprinzip). Bei der Anwendung dieser Prinzipien ergibt sich jedoch ein spezifischer Klärungsbedarf. Beim Gleichheitsprinzip gilt es zwischen Ergebnis- und Chancengleichheit zu unterscheiden. In westlichen Gesellschaften besteht ein Konsens darüber, dass individuelle Freiheitsrechte und vor allem auch Zugangschancen zu Gütern und Positionen gleich verteilt sein sollten. Beim Bedarfsprinzip ist zu klären, was als legitimes Bedarfsniveau angesehen wird und welche Voraussetzungen jemand erfüllen muss, um eine entsprechende Unterstützung zu erhalten. Die individuelle Verantwortlichkeit spielt hier eine zentrale Rolle. Sind Personen selbst für eine Notlage verantwortlich, so gibt es die Tendenz, bedarfsabsichernde Hilfen abzulehnen. Beim Leistungsprinzip besteht das klassische Problem in der Bestimmung der individuellen Leistung. Schließlich gilt es beim Anrechtsprinzip die Kriterien festzulegen, welche Belohnungs- oder Bestrafungsniveaus mit den jeweiligen Statuspositionen oder -merkmalen verbunden sind.
Ein wichtiger Befund ist, dass diese Prinzipien in Abhängigkeit zu den institutionellen bzw. individuellen Zielen sowie der Art der sozialen Beziehungen angewandt werden. Die institutionelle Zielbezogenheit wird daran sichtbar, dass in den funktionalen Teilbereichen der Gesellschaft - Ökonomie, Politik, Gesundheitssystem, Sport - jeweils auch spezifische Gerechtigkeitsprinzipien bevorzugt werden. Nur selten sprechen sich die Menschen für die Anwendung eines Gerechtigkeitsprinzips für alle gesellschaftlichen Teilbereiche aus. Stattdessen sollen solche Regeln gelten, die mit den Zielen der Gesellschaftsbereiche kompatibel sind: In der Ökonomie das Leistungsprinzip, im Gesundheitswesen das Bedarfsprinzip und in der Familie das Gleichheits- und das Bedarfsprinzip.
Zugleich spielen die individuellen Ziele eine wichtige Rolle. Je nachdem, welche Ziele eine Person in einer Situation verfolgt, präferiert sie sehr unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien. Erklärt wird dies erstens mit Verweis auf die rationalen Verteilungsinteressen, das heißt, es werden die Gerechtigkeitsprinzipien vorgezogen, von denen man aufgrund der eigenen Situation am meisten profitiert (Menschen mit hohem Einkommen sind deshalb bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen eher für die Geltung des Leistungsprinzips, und diejenigen mit geringerem Einkommen sprechen sich für das Bedarfs- oder Gleichheitsprinzip aus). Zweitens orientieren sich die Menschen an den über die jeweiligen Sozialisationsprozesse vermittelten Vorstellungen über Gerechtigkeit, wie sie in den gesellschaftlichen Institutionen verankert sind oder in sozialen Normen sichtbar werden. Dementsprechend finden sich nationale Unterschiede, wenn etwa in den USA dem Bedarfs- und Gleichheitsprinzip bei der Einkommensverteilung eine deutlich geringere Bedeutung zugesprochen wird als in Deutschland. 5
Die Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen der Art der sozialen Beziehung und den einzelnen Gerechtigkeitsprinzipien zeigen, dass in engen, langfristigen Beziehungen eher gleichheits- und bedarfsbezogene Regeln bevorzugt werden, in kurzfristigen, wettbewerbsorientierten Beziehungen eher am Leistungsprinzip orientierte. 6 Dieser Zusammenhang kann auf der Grundlage eines Vorschlags von Alan P. Fiske genauer gefasst werden. 7 Er geht davon aus, dass die Formen sozialen Zusammenlebens an vier Modellen orientiert sind. Der erste Typus zeichnet sich durch enge und dauerhafte Beziehungen aus, bei dem der Einzelne fest in eine Gemeinschaft eingebunden ist, alle Mitglieder hinsichtlich ihrer Herkunft gleich sind und eine gemeinsame Identität teilen. Hier gilt das Bedarfsprinzip als gerechte Verteilungsregel: Jeder erhält soviel, wie er braucht.
Der zweite Typus sind hierarchische Beziehungen, in denen die Beteiligten durch Über- und Unterordnung aufeinander bezogen sind. Höhergestellte übernehmen Verantwortung für die ihnen Unterstellten, die wiederum im Austausch dafür die Autorität der Höhergestellten anerkennen. Das korrespondierende Gerechtigkeitsprinzip ist das Anrechtsprinzip. Jeder erhält das, was ihm aufgrund seiner Position im Hierarchiegefüge zusteht.
Der dritte Typus zeichnet sich durch fehlende Rangunterschiede aus. Beispiele sind nicht-hierarchische Netzwerke, peer groups und Genossenschaften. Die Beteiligten betrachten sich gegenseitig - trotz individueller Unterschiede - als gleich, und jeder hat dieselben Rechte und Pflichten. Die Beziehungen werden durch einen Austausch bestimmt, bei dem jeder dem anderen ebenso viel zurückgibt, wie er erhalten hat. Das dominierende Gerechtigkeitsprinzip ist das der Gleichheit.
Der vierte Typus ist durch kurzfristige Beziehungen unter Fremden gekennzeichnet und entspricht dem Modell der Marktbeziehungen. Es handelt sich um ökonomische Austauschbeziehungen, in denen die Beteiligten Güter oder Dienstleistungen anbieten, um daraus möglichst hohe Vorteile zu erhalten. Das gerechte Verteilungsprinzip ist hier das der Leistung.
Wenn nun die Art der sozialen Beziehungen entscheidet, welches Gerechtigkeitsprinzip zur Anwendung kommen soll, so gründen Konflikte um die inhaltliche Ausgestaltung der sozialen Gerechtigkeit letztlich in einem unterschiedlichen Verständnis darüber, welche Beziehungen die Mitglieder einer Gesellschaft untereinander haben. Versteht man die Gesellschaft im Sinne einer engen Gemeinschaft, so wird man stärker auf die Geltung des Bedarfsprinzips rekurrieren. Ist die Gesellschaft eher ein loser Zusammenhang von Individuen, deren Ziel primär darin besteht, über Markttransaktionen ihre Gewinninteressen umzusetzen, so wird das Leistungsprinzip die dominierende Regel sein.
Auskunft über das aktuelle Verständnis sozialer Gerechtigkeit in einer Gesellschaft geben auch die öffentlichen Auseinandersetzungen. Lutz Leisering kommt auf der Grundlage einer Analyse der Debatten um den Umbau des deutschen Wohlfahrtsstaats zu dem Schluss, dass man vier "Paradigmen sozialer Gerechtigkeit" unterscheiden kann. 8 Die beiden ersten Paradigmen orientieren sich am Bedarfs- bzw. am Leistungsprinzip. Im ersten Fall kommt dem Staat die Aufgabe einer umfassenden Bedarfsabsicherung und Einkommensumverteilung zu. Im zweiten Fall steht hingegen die Realisierung der Leistungsgerechtigkeit im Vordergrund, was geringe Eingriffe in die Marktverteilung und eine nur minimale Absicherung gegenüber unverschuldeten Notlagen bedeutet. Das dritte Paradigma stellt eine Abwandlung der Leistungsgerechtigkeit dar - Leisering bezeichnet es als "produktivistische Gerechtigkeit". Damit ist die Vorstellung verbunden, dass die für die Gesellschaft erbrachten Leistungen Kriterien der Zuweisung von Gütern oder Lasten sind. Wer viele Kinder hat und damit zum Fortbestand der Gesellschaft beiträgt, sollte deshalb belohnt und von Lasten befreit werden.
Das vierte Paradigma "Teilhabegerechtigkeit" zielt darauf ab, Benachteiligungen aufgrund zugeschriebener Merkmale des Geschlechts, der Ethnizität, des Alters und der Generationenzugehörigkeit auszugleichen und eine gesellschaftliche Teilhabe im Sinne der rechtlichen Gleichstellung, sozialen Anerkennung und Beteiligung am sozialen, kulturellen und ökonomischen Leben zu garantieren. Nicht die Ergebnisse, sondern die Befähigung zum Handeln stehen hier im Vordergrund. Nach Einschätzung Leiserings gewinnt dieses Paradigma in den aktuellen Debatten zunehmend an Bedeutung. Deshalb sei zu erwarten, dass zukünftig soziale Gerechtigkeit primär im Sinne der Zugangschancen verstanden werde. Es kommt also zur Ablösung des klassischen, an den Ergebnissen der Verteilung ausgerichteten Verständnisses (Gleich- vs. Ungleichverteilung) durch ein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, das die Verbesserung der Chancenstrukturen zum Gegenstand hat. Dies steht im Einklang mit einem Vorschlag des Ökonomen Amartya Sen, wonach es bei der sozialen Gerechtigkeit darum geht, den Einzelnen dazu zu befähigen, seine individuellen Lebensziele zu verwirklichen. 9
Falls die Diagnose von Leisering zutrifft und tatsächlich soziale Gerechtigkeit verstärkt im Sinne der Teilhabegerechtigkeit verstanden wird, so stellt sich die Frage nach den Gründen für einen solchen Wandel. Aus Sicht der empirischen Gerechtigkeitsforschung sind diese vor allem im Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen zu suchen, denn "[m]en hold conceptions of social justice as part of more general views of society, and (...) they acquire these views through their experience of living in actual societies with definite structures and embodying particular kinds of interpersonal relationship". 10
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Bedeutung der Art der sozialen Beziehungen für die Präferenz bestimmter Gerechtigkeitsprinzipien ist es nur folgerichtig, dass soziale Gerechtigkeit in heutigen Gesellschaften weniger auf die Ergebnisse der Verteilung als vielmehr auf die Zugangsmöglichkeiten und Chancen fokussiert.
Für eine Abkehr von einem an den Ergebnissen orientierten Gerechtigkeitsverständnis spricht zunächst, dass in marktgesteuerten Gesellschaften keine Ergebnisgleichheiten realisierbar sind. 11 Sobald Produkte oder Dienstleistungen unter Wettbewerbsbedingungen getauscht werden, die individuellen Fähigkeiten auch darüber entscheiden, wer was in welchem Umfang anbieten und nachfragen kann, entstehen notwendigerweise Ungleichheiten, die darin begründet sind, dass Menschen unterschiedliche Vorlieben und Fähigkeiten haben. Diese Ungleichheiten vollständig aufzuheben, ist nicht nur praktisch unmöglich, sondern widerspricht auch dem grundlegenden Bedürfnis der Menschen nach Individualität und den damit verbundenen Status- und Distinktionsbedürfnissen.
Zudem ist die individuelle Güterausstattung nicht nur das Ergebnis von Entscheidungsprozessen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen, die jeweils eigenen Logiken folgen (z.B. Bildungs-, Erwerbssystem), sondern oftmals auch das Ergebnis der Verkettung glücklicher oder unglücklicher Zufälle. Ein an den Ergebnissen orientiertes Gerechtigkeitsverständnis beruht zudem auf Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die nicht mehr notwendigerweise gegeben sind. So setzt die Idee der Bedarfsgerechtigkeit eine Gesellschaft voraus, die sich als Solidargemeinschaft versteht und in gemeinsamen Identitäten wurzelt. In dem Maße, wie auf Herkunft oder Religion beruhende Gemeinsamkeiten nicht mehr bestehen, verlieren entsprechende normative Forderungen ihre Basis. Das Leistungsprinzip setzt andererseits voraus, dass sich die individuellen Anstrengungen exakt bestimmen lassen. In "globalisierten" "Dienstleistungs-" oder "Wissensgesellschaften" wird dies immer schwieriger, weil Arbeitsabläufe stärker miteinander verwoben sind, Arbeitsergebnisse zunehmend abstrakter und stärker von den Zufälligkeiten der Märkte bestimmt werden.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Wechsel zu einem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit als Chancen- und Teilhabegerechtigkeit nur folgerichtig zu sein. Dies bedeutet freilich nicht, dass Fragen der Bedarfsgerechtigkeit im klassischen Sinne obsolet werden. Schutz vor Marktversagen, Absicherung vor nicht selbstverschuldeten Notlagen und Gewährung eines bestimmten Mindestlebensstandards sind Forderungen, die auch dann wichtig werden, wenn es gilt, den Einzelnen bei der Realisierung seiner individuellen Lebenspläne zu unterstützen. Im Unterschied aber zur Bedarfsabsicherung in Familien oder engen Gemeinschaften erfolgt eine derartige Ausfallbürgschaft nicht unbedingt, sondern es knüpfen sich daran auch Erwartungen an entsprechende Gegenleistungen.
1 Vgl. Olaf
Groh-Samberg, Armut in Deutschland verfestigt sich, in: DIW
Wochenbericht, (2007) 12, S. 177-182.
2 Vgl. Gerold Mikula, Gerecht und
ungerecht: Eine Skizze der sozialpsychologischen
Gerechtigkeitsforschung, in: Martin Held/Gisela Kubon-Gilke/Richard
Sturm (Hrsg.), Normative und institutionelle Grundfragen der
Ökonomik. Jahrbuch 1, Marburg 2002, S. 257-278.
3 Vgl. Frank Nullmeier/Georg Vobruba,
Gerechtigkeit im sozialpolitischen Diskurs, in: Diether
Döring/Frank Nullmeier/Roswitha Pioch/Georg Vobruba (Hrsg.),
Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, Marburg 1995, S. 11-66.
4 Vgl. Irene Becker/Robert Hauser,
Soziale Gerechtigkeit - eine Standortbestimmung, Berlin 2004.
5 Vgl. Stefan Liebig/Bernd Wegener,
Primäre und sekundäre Ideologien. Ein Vergleich von
Gerechtigkeitsvorstellungen in Deutschland und den USA, in:
Hans-Peter Müller/Bernd Wegener (Hrsg.), Soziale Ungleichheit
und soziale Gerechtigkeit, Opladen 1995, S. 265-293.
6 Vgl. Kjell Törnblom, The Social
Psychology of Distributive Justice, in: Klaus R. Scherer (ed.),
Justice. Interdisciplinary Perspectives, Cambridge 1992, S.
177-236; Ernst Fehr/Klaus M. Schmidt, The Economics of Fairness,
in: Serge-Christophe Kolm/Jean Mercier Ythier (eds.), Handbook of
the Economics of Giving, Vol. 1., Amsterdam 2006, S. 615-691.
7 Vgl. Alan P. Fiske, The Four
Elementary Forms of Sociality, in: Psychological Review, 99 (1992)
4, S. 689-723.
8 Lutz Leisering, Paradigmen sozialer
Gerechtigkeit, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld/Steffen Mau
(Hrsg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen
Gesellschaften, Frankfurt/M. 2004, S. 29-68.
9 Vgl. Amartya Sen, Inequality
Reexamined, Cambridge 1992.
10 David Miller, Social Justice, Oxford
1976, S. 342.
11 Vgl. Heiner Meulemann,
Sozialstruktur, soziale Ungleichheit und die Bewertung der
ungleichen Verteilung von Ressourcen, in: Peter A. Berger/Volker H.
Schmidt (Hrsg.), Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Grundlagen
der Ungleichheitsforschung, Wiesbaden 2004, S. 115-136.