SÜDAFRIKA
Verfehlte Einwanderungspolitik führte zu den schlimmsten Ausschreitungen in der Geschichte
In einer Schublade seiner Arztpraxis bewahrt Arnold M. ein aus der Zeitung gerissenes Foto auf. "Von Zeit zu Zeit hole ich es heraus und schaue es einfach nur an", sagt der Urologe und schüttelt den Kopf. Das Foto zeigt den Mosambikaner Ernesto Nhamuave in dem Moment, als er am Boden kniet und bei lebendigem Leib verbrennt. Das Zeugnis des sterbenden Mannes wurde weltweit zum Symbol für die ausländerfeindlichen Pogrome in Südafrika im Mai 2008, bei denen mehr als 60 Menschen starben, mehr als 600 verletzt und Dutzende Frauen vergewaltigt wurden.
"Der Tod von Ernesto Nhamuave war ein Wendepunkt für mich", sagt Dr. M. "Dass Leute etwas gegen Ausländer haben, das gibt es überall. Aber sich zusammenzurotten und sie zu ermorden, das ist etwas anderes, das macht mir Sorgen." Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Kongolese Südafrika als einen guten Ort zum Leben und Arbeiten betrachtet. Nicht, dass er seit seiner Ankunft im Jahr 1992 nicht hin und wieder von Angriffen auf Ausländer gehört hätte. Doch wie viele hochqualifizierte Einwanderer lebt Arnold M. in einem wohlhabenden Vorort, seine Kinder gehen auf eine Privatschule. Sein Leben und das Leben in den Armenvierteln, den Zentren der fremdenfeindlichen Ausschreitungen, berühren sich nicht.
Arnold M. kam nach Südafrika, um seine Facharztausbildung zu machen, und blieb. Das ist gut für das Land, dem in vielen Bereichen qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. In staatlichen Krankenhäusern klafft derzeit eine Lücke von 11.000 Ärzten und fast 50.000 Krankenpflegern und -schwestern. Zu wenige werden in Südafrika ausgebildet, und von den Wenigen wählen viele den lukrativeren privaten Sektor oder sie wandern selbst ins Ausland aus, wo wesentlich höhere Gehälter locken.
Die größte Wirtschaftsmacht Afrikas zieht seit dem Ende der Apartheid-Ära Einwanderer magnetisch an. Nach der totalen Abschottung der Landesgrenzen während der Apartheid war die Einwanderungspolitik der ersten demokratischen Jahre chaotisch: Zuerst öffnete die Regierung euphorisch das Land für alle, kurze Zeit später versuchte auch sie, die Grenzen "dicht" zu machen. Erst seit 2002 besitzt Südafrika ein klares Einwanderungsgesetz, das eine kontrollierte Einwanderung fördert. Wahrscheinlich aus diesem Grund haben Südafrikaner heute in der Regel eine positivere Einstellung zu dringend benötigten ausländischen Fachkräften wie Arnold M.als noch vor zehn Jahren. Zu diesem Ergebnis kommen zumindest Umfragen des "Southern African Migration Project" (SAMP), eines internationalen Forschungsverbundes. Doch die angestiegene Akzeptanz der hochqualifizierten Einwanderer ist fast der einzige Lichtblick in diesen umfassendsten Untersuchungen in Südafrika zum Thema "Wir und die Anderen" . Die Anderen: Das sind geschätzte zwei Millionen eingewanderte Menschen, rund vier Prozent der 48 Millionen Bewohner Südafrikas. (Zum Vergleich: In Deutschland leben rund neun Prozent mit ausländischem Pass.) Unter ihnen sind viele Afrikaner, die aus ähnlichen Gründen kamen wie der Arzt Arnold M.: Dessen Heimatland, zerrüttet am Ende eines langen Krieges, bot ihm keine Chancen, keine Hoffnung auf Lebensqualität und Wohlstand. Unter den Einwandern sind viele Europäer, die es ebenfalls des guten Lebens oder der Karriere wegen nach Südafrika zog. Großbritannien stellte in der letzten offiziellen Zählung aus dem Jahr 2001 die drittgrößte Einwanderergruppe, Deutschland lag an achter Stelle.
Weiße und wohlhabende Ausländer hatten nichts zu befürchten, als im Mai 2008 die Gewaltwelle über das Land rollte. Arme schwarze Südafrikaner jagten arme schwarze Nicht-Südafrikaner. Der Schock war groß. Die damalige Vizepräsidentin Phumzile Mlambo-Ngcuka sagte fassungslos: "Ich kann einfach nicht glauben, dass normale Südafrikaner gegen ihre afrikanischen Brüder und Schwestern sind. Ich kann das einfach nicht glauben." Vize-Außenminister Aziz Pahad nannte die Ausschreitungen ein "total unerwartetes Phänomen in unserem Land".
Die Medien, nationale wie internationale, machten schnell mehrere Ursachen aus. Die große Armut, die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich und einen Konkurrenzkampf innerhalb der armen Bevölkerung um Mangelwaren - vom Arbeitsplatz bis hin zu Sozialwohnungen. Um die Geisteshaltung der Täter zu erklären, verwiesen Kommentatoren schließlich auch auf zwei noch längst nicht überwundene Aspekte des Apartheid-Regimes: Erstens die Spaltung der Bevölkerung nach rassifizierenden Kriterien. Zum zweiten die Abkapselung vom übrigen Kontinent mit dem arroganten Selbstverständnis, eine von "Afrika" umzingelte Bastion der Ersten Welt zu sein.
Aber war die Gewaltwelle wirklich so "total unerwartet", wie Pahad und andere es empfanden? Schließlich haben seit dem Ende des Apartheid-Regimes in jedem Jahr Angriffe auf Ausländer stattgefunden. Im Jahr 2007 meldete die Nachrichtenagentur Reuters rund 40 getötete Somalis. 2006 wurden mindestens drei Simbabwer und zahlreiche Somalis getötet - die Liste lässt sich fortsetzen. Noch im Jahr 2004 sagte die damalige Innenministerin Nosiviwe Mapisa-Nqakula: "Wir sind extrem besorgt, dass es heute, im Jahr Zehn unserer Demokratie, einige in unserer Gesellschaft gibt, die eine gefährliche Neigung zum Hass gegen andere Menschen aufweisen, allein auf der Basis, dass (...) sie aus einem anderen Land kommen."
Einige Wissenschaftler wühlten noch weiter im historischen Gedächtnis und fanden dabei sogar ein staatliches Vorbild für die Aktionen, mit denen der Mob im Mai 2008 vermeintliche (afrikanische) Ausländer identifizierte: die "Aliens Control Units" der Polizei. Diese mittlerweile aufgelösten "Ausländerkontrolleinheiten" waren vor zehn Jahren in die Townships eingefallen und hatten Menschen allein aufgrund einer für Südafrikaner angeblich untypisch dunklen Haut festgenommen oder aufgrund einer vermeintlich un-südafrikanischen Art, sich zu bewegen.
Doch nach den schlimmsten Ausschreitungen gegen Ausländer in der Geschichte des demokratischen Südafrika, eben jenen vom Mai 2008, lehnte der damalige Präsident Thabo Mbeki Fremdenfeindlichkeit als Motiv ab, und sprach statt dessen von kriminellen Akten einer kleinen Minderheit. Vincent Williams hält das für einen großen Fehler. Der Projekt-Manager von SAMP in Südafrika sagt, Faktoren wie Armut dürften natürlich nicht in Abrede gestellt werden. Aber, so Williams, sie erklären eben auch nicht hinreichend, warum die Gewalt gegen eine spezifische Gruppe gerichtet wurde. "Wir müssen uns eingestehen, dass Fremdenfeindlichkeit das Problem ist."
Dabei stützt sich Williams auf die alarmierenden Ergebnisse der SAMP-Umfragen zur Einstellung von Südafrikanern gegenüber Einwanderern von 1997, 1999 und 2006. Bereits 1997 fanden die Forscher, dass Südafrikaner gegenüber Einwanderern feindseliger eingestellt waren als die Bewohner aller anderen Länder, zu denen es vergleichbare Studien gab. In der jüngsten Umfrage unterstützten fast 50 Prozent der Befragten die Aussage, dass alle Ausländer, einschließlich der legal im Land lebenden, ausgewiesen werden sollen - und dies trotz der bereits erwähnten höheren Akzeptanz von Fachkräften, die von 12 Prozent im Jahr 1999 auf 23 Prozent im Jahr 2006 anstieg. 16 Prozent erklärten die Bereitschaft, sich mit anderen zusammenzutun, um Ausländer aus ihrer Gegend zu vertreiben, und neun Prozent sagten, sie würden zu diesem Zweck selbst Gewalt anwenden.
Die Schlussfolgerung der SAMP-Wissenschaftler ist deutlich: "Fremdenfeindliche Einstellungen sind weit verbreitet und fest verwurzelt in Südafrika, und sie beschränken sich nicht auf eine kleine (kriminelle) Minderheit." Diese Haltungen, sagen die Forscher, verliefen "quer durch Einkommens-, Alters- und Bildungsgruppen". Bei der weißen Bevölkerungsgruppe sei die Fremdenfeindlichkeit höher als bei der schwarzen.
"Viele Südafrikaner sind gute Menschen und sehr freundlich." Das sagt Judith M., die seit mehr als drei Jahren in einer Johannesburger Kirche haust. Während der gewalttätigen Ausschreitungen 2008 verließ die Simbabwerin aus Furcht tagelang die "Central Methodist Church" nicht, die ebenfalls angegriffen wurde; sie beherbergt seit Jahren jede Nacht mehrere Tausend Menschen aus Simbabwe. Jede Treppenstufe, jeder Winkel ist nachts mit einem Körper bedeckt. Judith M. hat es mittlerweile in einen der wenigen Räume der Kirche geschafft, sie teilt ihn mit elf weiteren Familien. Auf einer Fläche von weniger als vier Quadratmetern hat sie sich mit ihrem Ehemann und zwei Töchtern eingerichtet. M. hat politisches Asyl in Südafrika bekommen, sie war in Simbabwe Mitglied der damaligen Oppositionspartei MDC. Ihr Haus war eines von 700.000, die Präsident Robert Mugabe in der international gegeißelten Aktion "Murambatsvina" ("Müllentsorgung") niederwalzen ließ. Einen Pass hat Judith M. nicht, und deshalb auch keine Arbeitserlaubnis. Gelegentlich verkauft sie Äpfel, ihr Mann arbeitet als Lastwagenfahrer, manchmal. Flüchtlinge wie die Familie M., arm, schwarz und ohne Hoffnung auf bessere Zeiten, haben ihr Leben in Südafrika geparkt. Fast alle wollen zurück, sobald ihre Heimat ihnen ein Fenster zu einer Zukunft öffnet.
Südafrika besitzt einige wenige staatliche und städtische Institutionen, die Menschen wie Judith M. unterstützen, zum Beispiel die Migranten-Help-Desks der Stadt Johannesburg. Vor allem aber kümmert sich die starke Zivilgesellschaft, sorgen Nichtregierungsorganisationen und Kirchen um diejenigen Fremden im Land, die durch das Raster des Wohlwollens fallen, weil sie dem Land Südafrika keinen erkennbaren wirtschaftlichen Nutzen bringen.
Wissenschaftler der Wits-Universität in Johannesburg machten sich zu Beginn dieses Jahres in das Township Alexandra auf, wo 2008 die Serie der Gewalt ihren Ausgang nahm. Sie wollten Ausländer zu ihrer Lebenssituation ein Jahr danach befragen, doch sie fanden fast keine. "Es scheint", sagt Véronique Gindrey, Migrationsspezialistin am "Forced Migration Studies Programme" der Wits-Universität, "dass nach den Angriffen nur sehr wenige von ihnen dorthin zurück gekehrt sind."
Das wäre nur konsequent. Denn die wenigsten Straftaten vom Mai 2008 sind aufgeklärt worden. Auch die Mörder von Ernesto Nhamuave sind noch frei.
Die Autorin arbeitet als freie Afrika-Korrespondentin und lebt in Johannesburg und Berlin.