Von der Hauptstadt Berlin aus geht es im Zug immer Richtung Norden, fast drei Stunden lang. Vorbei an Kiefern im Sand und alten Buchenwäldern, durch ein Land weiter Felder und langer Alleen, durch ein schlafendes Land, still und schön. Immer weiter geht es vorbei an stillgelegten Fabriken und verlassenen Höfen, durch ein Land leerer Gewerbeparks und rostiger Maschinen, durch ein stillgelegtes Land ohne Kraft, verbraucht und verlassen. Das Land heißt Mecklenburg-Vorpommern, an seinem Rand liegt die Ostseeinsel Usedom.
Seit der Wiedervereinigung sind fast 200.000 Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern weggezogen, bis 2020 werden von den heute knapp 1,7 Millionen Einwohnern wahrscheinlich noch einmal so viele Menschen ihrer Heimat den Rücken kehren, fast ausschließlich die Jungen. Sie gehen in der Hoffnung, im Westen eine Arbeit zu finden. Es gibt auf Usedom Dörfer, die in ein paar Jahren "Wüstungen" sein werden. Bisher war der Begriff für die entleerten Landstriche nach dem Dreißigjährigen Krieg reserviert. Die Zeitungen und Magazine warnen vor der Vergreisung und Verarmung eines ganzen Landes. Auf Usedom lesen die Zurückgebliebenen die kleine Insel-Zeitung. Sie wirbt für sich mit dem Satz: "Weil wir hier zu Hause sind."
Die Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen wollen oder können, kommen irgendwann in die Praxis von Dr. Wagner. Jeder Mensch ist einmal krank und André Wagner, 41, hat vor acht Jahren das "Landambulatorium" in der kleinen Stadt Usedom übernommen, nach der die ganze Insel benannt ist. Im "Landambulatorium" haben sich in der DDR drei Ärzte und zwei Zahnärzte um die Patienten gekümmert. Heute ist Wagner allein zuständig für rund 4.500 Menschen in einem Umkreis von fast 30 Kilometern. Seit Jahren bemüht er sich darum, dass ein zweiter Arzt in die Praxis einzieht. Doch der Job als Landarzt gilt vielen Kollegen als zu hart, sagt Wagner. Seine Arbeitstage beginnen morgens um halb acht und gehen bis abends um sieben. Mehrmals in der Woche hetzt er zu Notfällen in abgelegene Dörfer.
Auf dem Land im Osten geht es vielen Ärzten so wie Wagner. Alte Kollegen gehen in Rente, junge Mediziner rücken nicht nach. Fast 70 Prozent von Wagners Patienten sind Rentner, sie heißen auf Usedom "Fußkranke", das sind diejenigen, die zu alt sind, um wegzugehen. Rheuma, Gicht, Herzprobleme, Alterszucker sind die häufigsten Leiden, die Wagner in seiner Praxis behandelt. In seinen Krankenakten fehlen die Leute zwischen 20 und 30 Jahren. Die Jungen leben in Hamburg, Düsseldorf, Stuttgart. Kein Wunder. Die Arbeitslosigkeit pendelt auf Usedom um die 25 Prozent. In den Statistiken der Arbeitsagenturen gibt es dafür die Bezeichnung Kategorie I a mit den besonders schwereren Fällen.
Auch Anette Zeng, 39, rechnet mit trostlosen Zahlen. Seit zehn Jahren ist die Juristin Bürgermeisterin für knapp 2.000 Menschen. Zeng kennt sich aus im Dickicht aus Fördermittelbeantragungsfristen und Gemeindesubventionsvorschriften. Sie verwaltet den Mangel, stopft Löcher und hofft auf den Aufschwung: "Unsere Hoffnung ist der Tourismus." Wenn Zeng über die Zukunft spricht, verlässt sie für Augenblicke den tristen Alltag. Sie hat große Pläne: Ein Golfplatz soll entstehen, ein 200-Betten-Hotel mit Wellnesszentrum gebaut, der Hafen am Bodden renoviert werden. Das schöne verwunschene Land ist das Kapital der Insel, die Natur ist unverbraucht. Nirgendwo sonst in Deutschland warnen Schilder an den Straßen vor Otterwechseln. Seit 1990 ist die Insel ein Naturpark.
Schon jetzt profitiert Usedom von den drei Kaiserbädern an der Küste: Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin. Vor allem im Sommer gibt es dort in der Gastronomie Jobs. Die Insel soll wie in den 20er-Jahren wieder zur Badewanne Berlins werden. Damals bauten sich vor allem betuchte Großstädter Villen an den langen Sandstränden zwischen Bansin und Wollin (dem heute polnischen Misdroy). In der DDR verfielen die bourgeoisen Prachtbauten. Erholungsbedürftige Proletarier suchten ihre Entspannung stattdessen in Ferienheimen und auf Zeltplätzen. Die Insel Usedom wird als Reiseziel zwar immer beliebter, nur hat sich der Aufschwung, den die Küste derzeit erlebt, noch nicht bis in das Innere der Insel ausgebreitet, also zieht es die Menschen weiter in den Westen.
Das soll sich ändern. Der Schwund an Menschen muss gestoppt werden, sagt Sabine Ohse von der Rückkehragentur MV4you aus der Landeshauptstadt Schwerin. "Der beständige Wegzug des aktiven Nachwuchses schwächt die ohnehin labile Wirtschaft." In den kommenden Jahren drohe ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Trotz hoher Arbeitslosigkeit hätten Betriebe schon jetzt Schwierigkeiten, das passende Personal zu finden, seien in ihrem Wachstum gehemmt. MV4you bietet für diese Unternehmen eine Stellenbörse im Internet an: "Wir sehen uns als Plattform, auf der abgewanderte Fachkräfte und heimische Unternehmen zueinander finden können", erklärt Ohse. Seit ihrer Gründung 2001 habe MV4you so 250 Einstellungen vermittelt, im vergangenen Jahr 51 Menschen zur Rückkehr verholfen. Gefördert wird die Agentur mit jährlich rund 300.000 Euro vom Arbeitsministerium in Schwerin. Dafür liefert das sechsköpfige Team um Ohse Informationen über den regionalen Arbeitsmarkt, sendet Interessenten passende Stellenangebote zu, kümmert sich sogar mal um eine Wohnung für einen Heimkehrer, und unterstützt Betriebe bei der Suche nach dem Wunschmitarbeiter.
Auch in anderen Teilen Ostdeutschlands - wie in Sachsen oder Sachsen-Anhalt - gibt es mittlerweile Agenturen, die die verlorenen Arbeitsmigranten nach Hause locken wollen. Fast 2,2 Millionen Menschen haben seit 1990 die neuen Bundesländer verlassen, im Abgleich mit der Zuwanderung bedeutet das einen Verlust von 900.000 Menschen, einen Bevölkerungsrückgang von mehr als fünf Prozent. Rund 1,3 Millionen Wohnungen stehen zwischen Rostock und Chemnitz leer. Die meisten der Ost-West-Wanderer waren unter 30 Jahre alt. Viele sind gut ausgebildet, haben studiert und Berufserfahrung. In Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen Anhalt aber fehlen neben Facharbeitern vor allem Ingenieure und Betriebswirte, Juristen und Ärzte.
In der Kundenkartei von MV4you gibt es fast 2.000 Profile von meist sehr gut qualifizierten Klienten, die gerne zurückkommen wollen. "Viele der Leute melden sich von sich aus bei uns", sagt Ohse, "dabei spielt Heimweh eine große Rolle." Auf Anregung von MV4you gebe es in Hamburg und Berlin, Hildesheim und Darmstadt Stammtische von Exil-Mecklenburgern. "Für uns ist es auch ein Erfolg, wenn der Kontakt in die alte Heimat nicht abreißt." Studien von Sozialwissenschaftlern der Hochschule Magdeburg-Stendal haben herausgefunden, dass bei der Gruppe der unter 35-Jährigen fast zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen gerne in den Osten zurückkommen würden. Seit jeher gelten die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern als besonders heimatverbunden. Auch die "Westflüchtlinge" aus Usedom kommen mehrmals im Jahr zurück auf die Insel, erzählt Bürgermeisterin Zeng. Heirat und Taufe finden wie selbstverständlich auf Usedom statt. "Die Menschen haben Sehnsucht nach dem Land und dem Meer." Zeng kann das gut verstehen. Sie selbst ist vor rund zehn Jahren gegen den Trend aus dem Westen aus der Nähe von Frankfurt am Main nach Usedom gezogen. Sie hat Wurzeln geschlagen. "Leider bin ich noch eine Ausnahme."
Das Heimweh ist vielleicht der wichtigste Verbündete von MV4you. Denn die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird noch auf Jahre unsicher bleiben, die Bezahlung, trotz meist längerer Arbeitszeiten, ist schlechter als im Westen. Davon hat sich Gabriel Graumann, 26, nicht abschrecken lassen. "Ich habe mich in der Fremde nicht schlecht gefühlt, aber mir haben die Landschaft und die Ostsee sehr gefehlt." Der Bauingenieur hat Mecklenburg-Vorpommern nach dem Abitur zum Studium verlassen, an eine Rückkehr habe er immer mal wieder gedacht, aber erst als er einen Artikel über MV4you gelesen habe, sei die Suche konkret geworden. "Ich habe die Agentur angerufen, und die haben mich ab dem Zeitpunkt richtig individuell betreut", sagt Graumann. Am Ende konnte er zwischen drei Angeboten wählen. Jetzt arbeitet er in Wolgast. Vor seinem Fenster liegt die Insel Usedom im Nebel.