Gewaltprävention
Das Projekt »Pro Kind« begleitet Mütter in sozialer Not. So soll Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern verhindert werden
Liza macht große Augen: Auf dem Schoß ihrer Mutter Eve verfolgt das sieben Monate alte Mädchen gebannt jede Bewegung des blauen Luftballons, den diese in die Luft stupst. "Hast du gesehen, wie gut Liza ihn schon im Auge behalten kann? Sie merkt auch, wenn er aus ihrem Sichtfeld verschwindet", lobt Susanne Arzenheimer. Die Hebamme hat den Ballon als Anregung zum Spielen mitgebracht - aber auch um zu überprüfen, ob sich das Baby der 24 Jahre alten Mutter Eve normal entwickelt.
Susanne Arzenheimer ist zum Hausbesuch bei der jungen Mutter. Seit ihrer Schwangerschaft betreute sie Eve ein bis zwei Mal die Woche, inzwischen reicht ein Besuch alle zwei Wochen.
Doch bis Tochter Liza zwei Jahre ist, werden Mutter und Hebamme in engem Kontakt bleiben. Diese kontinuierliche Begleitung hat Prinzip: Susanne Arzenheimer arbeitet bei "Pro Kind", einem Modellprojekt, das seit zwei Jahren in Bremen erprobt wird. "Pro Kind" richtet sich an Frauen wie Eve: Wie sie sind alle zwölf Schwangeren und Mütter, die Arzenheimer derzeit betreut, in einer Problemsituation - die meisten minderjährig, viele ohne Ausbildung oder Job. Alle leben sie von Hartz IV.
Doch das sind oft nicht die einzigen Probleme: "Die Frauen haben mit etlichen Konflikten zu kämpfen", erzählt Susanne Arzenheimer. "Streit in der Familie, mit Freunden - auch die Väter der Kinder sind meist nicht da." Nicht selten seien die Frauen isoliert, litten unter einer Vergangenheit mit Drogen oder Gewalt.
Bekommen sie dann noch ein Kind, sei das eine Situation, die sie schlicht überfordere. "Sie wollen gute Mütter sein und haben hohe Ansprüche an sich", sagt die 43-Jährige, als sie nach dem Besuch bei Eve ins Auto steigt. Doch es seien einfach zu viele Probleme, um sie allein zu bewältigen.
Immer mehr Frauen brauchen Unterstützung: Gerade in Bremerhaven, wo Susanne Arzenheimer im Einsatz ist, haben Teenager-Schwangerschaften stark zugenommen. Die Zahl der Kinder, die in Armut aufwachsen, auch: Rund 40 Prozent, also jedes zweite Kind, leben hier in prekären Verhältnissen. "Diese Kinder werden in die Benachteiligung hinein geboren", sagt Kristin Adamaszek, Hebamme und Psychologin, die das Forschungsprojekt "Pro Kind" in Bremen leitet. Es droht ein Teufelskreislauf aus Armut, fehlender Bildung, Perspektivlosigkeit, Vernachlässigung und Gewalt, der sich von Generation zu Generation fortsetzten könnte - wenn man nicht versucht, ihn zu durchbrechen.
Genau das will "Pro Kind": 2004 lernte der Kriminologe und frühere niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer in den USA das Hausbesuchsprogramm NFP (Nurse Familiy Partnership) kennen, bei dem seit Ende der 70-Jahre Erstgebärende mit niedrigem Einkommen von Gemeindeschwestern schon während der Schwangerschaft betreut wurden. Die Begleitforschung hatte bewiesen: Die betreuten Kinder waren durchschnittlich gesünder, intelligenter und emotional gefestigter. Vernachlässigung konnte um 48 Prozent gesenkt werden - und im Jugendalter wurden die Kinder um 59 Prozent seltener kriminell.
In einer Zeit, in der die Aufregung über misshandelte Kinder wie Kevin aus Bremen in Deutschland hohe Wellen schlug, startete - von Pfeiffer initiiert - "Pro Kind" in Niedersachsen als Forschungsprojekt nach US-amerikanischem Vorbild.
Heute werden hier, in Bremen und Sachsen insgesamt rund 400 Frauen betreut. Getragen wird dies zum großen Teil durch Bundes- und Landesgelder, in Niedersachsen sind auch Kommunen und private Sponsoren an der Finanzierung beteiligt. Im Schnitt 4.000 Euro kostet pro Jahr und Familie diese Begleitung. Eine Menge Geld, doch für Kristin Adamaszek ist es gut angelegt: "Das Beispiel USA hat gezeigt, dass sich bereits nach vier Jahren die Investition bezahlt macht." Nach 20 Jahren habe dort jeder investierte Dollar vier Dollar an späteren Folgekosten gespart.
Die Frauen unterstützen - und so den Kindern helfen, das ist die Devise von "Pro Kind". Nicht umsonst geht es bei den Hausbesuchen der Hebammen nicht nur um Pflege, Ernährung und Förderung der Babys, sondern auch um die Mutter selbst. Welche Ziele hat sie und wie kann ihr geholfen werden, diese zu erreichen? Ob es um die Rückkehr in die Schule, die Suche nach einem Ausbildungsplatz oder die erste eigene Wohnung geht: Oft wird die Hebamme zur wichtigen Ratgeberin im Alltag, einer Art ‚Coach für alle Fälle'.
Susanne Arzenheimer setzte sich für Eve ein, als das Sozialamt ihr keine eigene Wohnung genehmigen wollte. Hartz IV-Empfängern unter 25 Jahren stünde keine zu, so die Argumentation der Behörde. "Schwangeren aber doch", dachte sich die Hebamme. Sie wälzte Gesetzestexte und fand die Regelung, nach der Eve schließlich eine Wohnung bekam.
"Susanne war eine riesige Unterstützung", sagt Eve. Für Arzenheimer sind dies die schönsten Momente, "wenn ich spüre, dass die Frau Vertrauen zu mir hat." Doch solche Beziehungen brauchen Zeit, um sich zu entwickeln. Deshalb beginnt die Begleitung schon früh in der Schwangerschaft. Nur bis zur 28. Woche, und nur bei ihrem ersten Kind, können Frauen bei "Pro Kind" aufgenommen werden. "Dann haben wir eine Chance, etwas zu verändern", erklärt Adamaszek. In ihrer ersten Schwangerschaft seien Frauen offener für Neues, später meist weniger.
Manchmal entsteht aber auch kein Draht zwischen Mutter und Begleiterin. Es kommt vor, dass die Frauen Termine nicht einhalten und Susanne Arzenheimer dann vor einer verschlossenen Tür steht. Manchmal braucht eine Frau auch mehr Hilfe, als "Pro Kind" leisten kann. Nehmen die Probleme einer Frau überhand und besteht sogar Gefahr für das Kind, wird das Jugendamt eingeschaltet.
Doch die Begleitforschung belegt erste ermutigende Ergebnisse: "Besonders deutlich sind Veränderungen bei den hochrisikobelasteten Schwangeren", sagt Tanja Jungmann, Psychologin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, die die Leitung der Begleitforschung übernommen hat. Gerade die Frauen, deren Situation durch mehrere Risikofaktoren wie Arbeitslosigkeit oder frühere Drogenabhängigkeit am problematischsten sei, entwickelten sich am positivsten: "Die pränatale Bindung zu ihrem Kind ist stärker, sie ernähren sich besser - und sie haben öfter das Gefühl, selbst etwas in ihrem Leben bewegen zu können", so Jungmann.
Gute Aussichten, doch das Forschungsprojekt steht unter Druck: Noch immer wurden nicht genügend Frauen für eine Teilnahme gewonnen. Die Rekrutierungsphase muss verlängert werden, doch erste Städte wie Hannover, erwägen die Förderung nicht zu verlängern.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.