nationalversammlung
Vor 90 Jahren konstituierte sich das erste frei gewählte deutsche Parlament
Am Anfang war Goethe. "Denn der Mensch, der zur schwanken Zeit auch schwankend Gesinnung ist / Der vermehrt das Übel und leitet es weiter und weiter / Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich." Mit diesem minimal veränderten Zitat aus dem neunten Gesang des Epos "Hermann und Dorothea" begründete Friedrich Ebert in der Eröffnungssitzung der Nationalversammlung vor neunzig Jahren sein politisches Konzept: schrittweise Reformen statt schlagartiger Umsturz. Vor allem die Unabhängigen Sozialdemokraten, die linke Abspaltung von Eberts SPD, reagierten laut Protokoll mit "Unruhe" auf dieses Goethe-Wort. Denn sie wussten, dass sie gemeint waren.
Die konstituierende Sitzung der Nationalversammlung am 6. Februar 1919 steht am Anfang des Parlamentarismus in Deutschland. Nur drei Wochen zuvor hatten rund 33 Millionen Deutsche zum ersten Mal in allgemeinen, gleichen, freien und geheimen Wahlen ihre Vertreter bestimmt - die Geburtsstunde der Demokratie. Nun lag es an den 423 Abgeordneten, dem Land eine zukunftsfähige Ordnung zu geben. Das allerdings war eine ungeheure Aufgabe. Denn auch wenn Ebert es in seiner Rede nicht ansprach: Mit der Tradition des deutschen Idealismus hatte die Auswahl des Nationaltheaters in Weimar als Sitzungsort herzlich wenig zu tun. Alle Zuhörer, die gewählten Volksvertreter ebenso wie die anwesenden Journalisten, wussten: Weimar war ausgewählt worden, weil es weitab von den Zentren der Revolution lag und hier die Freiwilligen Landjäger unter General Georg Maercker die Versammlung schützen konnten.
Nur einen Monat vorher war der Putschversuch des Spartakus-Bundes in Berlin blutig beendet worden. Und noch während die Abgeordneten zur ersten Sitzung in Weimar anreisten, am 4. Februar, waren in Bremen mehr als 80 Menschen ums Leben gekommen. Regierungstreue Truppen schlugen die dortige Räterepublik nieder. In München und Hamburg, in Teilen Sachsens und des Ruhrgebiets lag die faktische Regierungsmacht im Februar 1919 bei revolutionären Räten. Doch Ebert wusste genau, dass ein Fortgang der sozialistischen Revolution unweigerlich in den Bürgerkrieg führen würde; die einzige Chance für eine Beruhigung war der rasche Aufbau eines demokratischen Staatswesens. Immerhin bestand über die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland seit der Wahl am 19. Januar 1919 Klarheit: Drei Viertel der Bürger hatten für die reformorientierte SPD, die linksliberale Deutsche Demokratische Partei oder für das katholische Zentrum gestimmt. Also für jene drei Parteien, die seit 1917 versucht hatten, zu einem Kompromissfrieden mit den Kriegsgegnern und einem parlamentarischen Regierungssystem zu kommen - wenn auch erfolglos.
Nur ein knappes Fünftel der Stimmen war dagegen auf die Parteien des linken und des rechten Randes entfallen, auf die revolutionäre USPD und die reaktionäre DNVP. Deutlicher hätte der Wählerauftrag kaum ausfallen können: Die Deutschen wollten mehrheitlich in einer demokratischen Republik leben, nicht in einem sozialistischem Experiment. Gerade die mehr als 17 Millionen Erstwählerinnen hatten für dieses Ergebnis gesorgt: Sie wählten deutlich häufiger als männliche Deutsche bürgerlich.
Für Ebert hatte das Wahlergebnis auch in anderer Hinsicht Erleichterung gebracht. Nicht einmal rechnerisch hatten SPD und USPD eine Mehrheit in der Nationalversammlung - es gab also überhaupt keine Alternative zur konstruktiven Zusammenarbeit mit Zentrum und DDP, die er ebenso wie andere prominente Sozialdemokraten wie Philipp Scheidemann und Eduard David anstrebte. Als Weimarer Koalition wurde diese Konstellation bekannt, und solange diese drei Parteien kooperierten, in der Reichsregierung bis 1930 und im größten Einzelstaat Preußen sogar bis 1932, funktionierten Rechtsstaat und Demokratie.
Ebert hatte in der Eröffnungssitzung der Nationalversammlung als Sprecher der seit der Revolution im November 1918 amtierenden Übergangsgangsregierung namens "Rat der Volksbeauftragten" das Wort ergriffen. Es war klar, dass der führende Mann der SPD eine zentrale Rolle in der künftigen Republik spielen würde. Eigentlich war er dafür wie geschaffen, denn schon seinem Naturell nach strebte er stets nach Kompromissen. "Versöhnen statt spalten" ist eine Formulierung, die auch von Friedrich Ebert hätte stammen können.
Ein inspirierender Redner war er freilich nicht, und so löste selbst der pathetischste Moment seiner Ansprache nur begrenzte Begeisterung aus: "Deshalb begrüßt die Reichsregierung in dieser Nationalversammlung den höchsten und einzigen Souverän in Deutschland." Zwar konnte Ebert sich der absoluten Mehrheit der Versammlung gewiss sein. Dennoch versuchte er, die konservativen Kräfte nicht vor den Kopf zu stoßen. So sagte er zum Beispiel klar: "Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden ist es für immer vorbei." Als sich erwartungsgemäß auf dem rechten Flügel des Plenums Widerspruch erhob, fügte er versöhnlich an: "Wir verwehren niemandem eine sentimentale Erinnerungsfeier. Aber so gewiss diese Nationalversammlung eine große republikanische Mehrheit hat, so gewiss sind die alten gottgegebenen Abhängigkeiten für immer beseitigt."
Von allen verfassunggebenden Versammlungen der deutschen Nationalgeschichte hatte jene in Weimar wohl die schwierigste Aufgabe. Anders als zur Zeit der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 hatte Deutschland gerade einen Krieg verloren, mit schrecklichen Verlusten. Zudem herrschte nur Waffenstillstand, kein Frieden. Daher tagten die Volksvertreter unter der ständigen Drohung, die Kriegsgegner könnten die Kampfhandlungen wieder aufnehmen. Ohne deutsche Vertreter fanden in Versailles Verhandlungen über die künftige Ordnung Europas und der Welt statt: eine weitere Belastung für den Neustart.
Zwar gab es 1919 keine fremden Besatzungstruppen im Land, im Gegensatz zu 1948/49, als der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz ausarbeitete. Doch damit fehlte auch das stabilisierende Element, als das der Kontrollvorbehalt der westlichen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Zweifel wirkte.
Angesichts solcher Belastungen ist erstaunlich, wie rasch und konstruktiv die erste republikanische Verfassung Deutschlands ausgearbeitet wurde. Wesentlichen Anteil daran hatte der heute zu Unrecht weitgehend vergessene Staatsrechtler Hugo Preuß. Der Rat der Volksbeauftragten hatte den Berliner Professor schon eine Woche nach der Abdankung Wilhelms II. zum Staatssekretär berufen und beauftragt, einen Entwurf der künftigen Verfassung zu erarbeiten. Doch Preuß wollte in seinem mit nur 68 Artikeln sehr knappen, konzentrierten Entwurf wohl zu viel Neues. Nach seinen ersten Vorstellungen wäre die föderale Ordnung Deutschland zugunsten eines "dezentralisierten Einheitsstaates" aufgegeben worden; Artikel 11, Absatz 1 des Entwurfes lautete: "Dem deutschen Volk steht es frei, ohne Rücksicht auf die bisherigen Landesgrenzen neue deutsche Freistaaten zu errichten." Vor allem der größte Einzelstaat Preußen, aber auch das traditionsreiche Bayern wären dieser Neuordnung zum Opfer gefallen.
Dagegen sprachen sich auch führende Sozialdemokraten aus, zum Beispiel Otto Braun. Er warnte davor, "das neue, das demokratische Preußen" zu zerschlagen. Im Gegenteil schlug Braun vor, genauso unrealistisch wie Preuß' Idee, statt einer neuen Reichsgewalt die Befugnisse der bestehenden Regierungen in den großen Ländern zu stärken. Nach intensiven Diskussionen beschloss die Nationalversammlung eine stark an der traditionellen Gliederung des Reiches orientierte föderale Ordnung; Preußen blieb erhalten und war unter Ministerpräsident Otto Braun tatsächlich bis zum reaktionären Papen-Putsch am 20. Juli 1932 der wichtigste Garant der Demokratie in Deutschland.
Aus praktischen Erwägungen enthielt der Verfassungsentwurf von Hugo Preuß auch keinen Katalog der Grundrechte. Der Jurist scheute die langwierigen Auseinandersetzungen darüber. Außerdem enthielt auch die Verfassung der USA in ihrer ursprünglich verabschiedeten Form keine Grundrechte; sie waren erst zwei Jahre später hinzugefügt worden. Doch auch mit diesem Vorschlag setzte sich Preuß nicht durch. Statt dessen definierte der schließlich verabschiedete Verfassungstext nach 108 Artikeln über die Organisation der Reichsgewalt 56 Absätze "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen". Nach den fürchterlichen Erfahrungen des "Dritten Reiches" kehrte der Parlamentarische Rat diese Reihenfolge um: Im Grundgesetz stehen die Grundrechte ihrer Bedeutung entsprechend am Beginn. Nur knapp ein halbes Jahr Zeit hatte die Nationalversammlung, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. In vielem folgten die Abgeordneten daher den Vorschlägen von Hugo Preuß, gerade was die Gestaltung der politischen Institutionen anging. Nach dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie ist daher immer wieder über "Konstruktionsfehler" des Verfassungswerks spekuliert worden.
Doch der Grund für das unrühmliche Ende der Weimarer Republik liegt weniger bei der Verfassung als im Mangel an konsenswilligen Demokraten. Keine Konstitution kann den Rechtsstaat garantieren, wenn die Bürger mehrheitlich antidemokratisch wählen: Seit September 1930 gab es im Reichstag keine regierungsfähige Mehrheit mehr, seit Juli 1932 hatten die radikalen Parteien KPD und NSDAP dort sogar die absolute Mehrheit.
Friedrich Eberts Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Am 6. Februar 1919 hatte er den Abgeordneten im Weimarer Nationaltheater zugerufen: "Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und regiert in aller Zukunft sich selbst." In Wirklichkeit überlebte die Republik ihren ersten Präsidenten um nicht einmal acht Jahre. Dennoch ist die Eröffnung der Nationalversammlung vor 90 Jahren in Weimar ein Höhepunkt auf dem Weg zur stabilen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.