TV-RITUALE
Über kaum ein anderes Medium wird so viel geschimpft, aber aus liebgewonnener Gewohnheit möchte es doch kaum einer missen
Neulich berichtete das ARD-Magazin "Monitor" darüber, wie das Internet die Demokratie verändert. Sonja Mikich stellte einige der neuen Möglichkeiten für Bürger vor, sich am Meinungsbildungsprozess zu beteiligen, formulierte aber auch die Sorge, dass die "Herrschaft der Amateure" drohe, "wenn Millionen mitregieren". Denn, wie sie sagte: "Komplexes passt nicht gut in eine Mail."
Ihr Beitrag war immerhin fast zehn Minuten lang und gab sich Mühe, der Vielschichtigkeit des Themas gerecht zu werden. Mikich schwärmte von der "Frischzellenkur" für die Demokratie. Am Hamburger Hafen traf sie einen 32-Jährigen, der dank der Seite abgeordnetenwatch.de, auf der man Politikern Fragen stellen kann, vom eher unpolitischen Nichtwähler, schwupps, zum engagierten Mitdiskutierer wurde. Bei allem Aufwand blieb das Phänomen, das der Film beschreiben wollte, ein Rätsel. Vermutlich muss man festhalten: Komplexes passt nicht gut in einen Fernseh-Magazinbeitrag.
Von den üblichen Einsdreißig in der "Tagesschau" ganz zu schweigen. Um ein Thema im Fernsehen halbwegs angemessen aufbereiten zu können, bräuchte es schon eine halbstündige Dokumentation oder Reportage-Formen, die längst in die Nischenprogramme oder den späten Abend verbannt wurden. Für das Fernsehen als Medium, um politische Inhalte zu vermitteln oder gesellschaftlich relevante Diskussionen zu führen, spricht fast nichts. Außer die Größe des Publikums.
Das ist kein ganz unbedeutendes "Außer". Ohne das Fernsehen wäre die "Bild"-Zeitung das einzige echte Massenmedium. Täglich schalten fast zehn Millionen Menschen um 20 Uhr die "Tagesschau" ein. Und obwohl Studien immer wieder zeigen, dass sie sich hinterher an das meiste, das sie da gesehen haben, nicht erinnern können, erfüllt diese Viertelstunde eine wichtige Funktion - und sei es nur, sich grob gemeinsam darüber zu verständigen, welche Themen gerade wichtig sind.
Wer den gewaltigen Aufwand erlebt hat, der erforderlich ist, um einen Fernsehbeitrag oder Film zu produzieren, die Notwendigkeit, zu jedem Gedanken irgendeine Art von Bildern zu produzieren - der muss daran zweifeln, dass das Fernsehen ein halbwegs effizientes Medium für eine intelligente Art der Auseinandersetzung ist. Der ganze Einsatz bei der Aufbereitung hilft, viele Menschen zu erreichen, aber nicht unbedingt, tiefschürfende Gedanken zu transportieren.
Der vergangene amerikanische Wahlkampf hat nicht nur gezeigt, was das Internet bewegen kann, sondern auch, worauf es im Fernsehen ankommt. Millionen Menschen verfolgten die Duelle der Kandidaten für das Amt des Präsidenten - und fast die ganze Berichterstattung darüber konzentrierte sich auf die Performance, nicht auf die Inhalte. Man kann leicht auf den Gedanken kommen, dass eine politische Auseinandersetzung, wenn es das Fernsehen nicht gäbe, sich weniger an Äußerlichkeiten und Unwichtigem festmachen würde. Die Frage ist nicht nur, ob das stimmt, sondern auch, wie viele Menschen man verlieren würde, wenn es so wäre.
Auch das Charisma eines Barack Obama, vermittelt sich über die persönliche Anschauung - oder eben über das Fernsehen. Das ist eine seiner größten Stärken: Es lässt uns zu Augenzeugen werden. Am 11. September 2001 musste man vor dem Fernseher sitzen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie ungeheuer das war, was hier passierte. Es war ein für das Medium maßgeschneidertes Attentat, angelegt auf die maximale Wirkung auf die Nation und die Weltöffentlichkeit an den Fernsehgeräten. Kaum vorstellbar, dass jemand, der nur davon las, im gleichen Maße unmittelbar erschüttert worden wäre.
Ein Leben ohne Fernsehen wäre zu allererst ein Verzicht auf diese Art von Zeugenschaft. Hätte es die gleiche Welle von Hilfsbereitschaft gegeben, wenn wir nicht mit eigenen Augen gesehen hätten, wie der Tsunami kam und in Sekunden alles zerstörte? Und dass es Konflikte auf der Welt gibt, für die sich niemand zu interessieren scheint, bei denen es keinen öffentlichen Aufschrei, keinen Druck auf die Politik gibt - liegt das nicht oft daran, dass nicht nur die Berichterstatter vor Ort fehlen, sondern ganz konkret die Fernsehkameras, die uns zu Zeugen machen, zu Mitwissern?
Aber was bedeutet das eigentlich: Ein Leben ohne Fernsehen? Gerade für viele der größten Freunde des Mediums kommen die Sendungen, die sie lieben, über die sie mit Freunden diskutieren und für die sie brennen, heute vor allem über DVDs oder vom Computer ins Haus. Sie geben viel Geld dafür aus, das zu sehen, was für deutsches, amerikanisches oder britisches Fernsehen produziert wurde - aber im Zweifelsfall würden sie es nicht einmal merken, wenn man das Antennenkabel aus ihrem Gerät ziehen würde.
Es ist inzwischen ein Leichtes, Fernsehen nur indirekt zu konsumieren. Den Fernseher gar nicht mehr einzuschalten, und darauf zu vertrauen, dass Highlights und Aufreger, das, worüber alle reden, hinterher im Internet angeschwemmt wird. Das ist kein Leben ohne Fernsehen, aber eines ohne Fernsehrituale. Ohne das Gefühl, freitags um 20.15 Uhr zuhause sein zu müssen, weil dann der Krimi anfängt, die Anfangszeit der Lieblingsserie zu wissen und sich den ganzen Donnerstag schon auf "Schmidt & Pocher" zu freuen.
Aber ein wahres Leben ohne Fernsehen ist vermutlich nur eines, in dem man sich gar nicht vorstellen kann, was hinter der Wortkombination "Schmidt & Pocher" steckt. Ein scheinbar glückliches Leben ohne das Wissen, wer Verona Pooth ist, was einmal im Jahr im australischen Dschungel passiert und wie es aussieht, wenn ein Reinhold Beckmann einem Gast in die Seele zu kriechen versucht. Aber auch ein Leben ohne das Glück, mit den Protagonisten einer Serie wie "The West Wing" oder "Six Feet Under" mitzuleben, über die Komik einer Anke Engelke mitzulachen oder gleichzeitig mit Millionen anderen mit einem Kandidaten bei "Wetten dass?" mitzufiebern.
Es scheint noch nie so schwer gewesen zu sein wie heute, all den Belanglosigkeiten von mehr oder weniger realen Fernsehfiguren zu entkommen, die auch alle anderen Medien bevölkern. Und es scheint noch nie so leicht gewesen zu sein wie heute, Fernsehen als ein reines Hintergrund-, Nebenbei- und Zerstreuungsmedium abzutun. Die Zeit, als das Fernsehen noch große gesellschaftliche Debatten anstieß - mit Wolfgang Petersens Film "Smog" oder Horst Sterns jagdkritischen "Bemerkungen über den Rothirsch" -, ist lange vorbei. Aber ein Ersatz, ein ähnlich populäres Massenmedium, das solche Gemeinschaftserlebnisse produziert und uns zu Zeitzeugen macht, ist noch nicht erfunden. Natürlich ist es möglich, ohne Fernsehen zu leben. Aber warum sollte man es tun, wenn man es nicht muss?
Der Autor ist Medienjournalist
und Gründer von BILDblog.