STANDARDS
Klare Kriterien sollen Sender vor Quotendruck schützen
Die menschliche Natur, so erläutert uns deren intimer Kenner Friedrich Schiller (1759-1805), dürste nicht nur nach auserlesenen Vergnügungen, sondern der Mensch stürze sich auch gern "zügellos in wilde Zerstreuungen, die seinen Hinfall beschleunigen und die Ruhe der Gesellschaft zerstören. Bacchantische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volkes nicht zu lenken weiß". Der Gesetzgeber der Fernsehprogrammgestaltung sitzt nicht in Regierung und Parlament. Er sitzt in den Chefetagen der Fernsehstationen. Mögen der ZDF-Intendant und die Chefin von RTL, der ARD-Vorsitzende und die Macher von ProSiebenSat.1 sich um Stars und Fußballrechte balgen, sich in Interviews Sottisen zuwerfen und in der Politik gegeneinander eine Lobby für ihre Unternehmensinteressen aufbauen - am frühen Morgen haben sie nur eine Sucht: die Einschaltquoten.
Der Blick auf die Marktanteile des Vortages beeinflusst langfristige Strategien, führt zu spontanen Programmentscheidungen bis hin zur Ruckzuck-Absetzung von Serien. Die Geschichte der Medien ist eine Geschichte der Medienkritik. "Warum nimmt man sich für die Abendunterhaltungen die dürftigsten Bockbierfeste zum Vorbild? Warum verwendet man für die Konzerte eine Bums-Musik, die selbst abgehärtete Sterndampfer zum Kentern brächte? Warum lässt man neckische Rezitatorinnen ihren Altweibersommer austoben? Weil das dem Publikum gefällt?", ereiferte sich ein Medienkritiker 1932 in Carl von Ossietzkys "Weltbühne", und dennoch klingt es, als hätte er gestern abend die schwere Dosis von zwei Karnevals-Übertragungen samt Marianne und Michael und den Einzug von Supertranse Lorielle in das RTL-Dschungel-Camp zu sich genommen. Ein Dreivierteljahrhundert ist vergangen, und die Fragen, die an Radio und Fernsehen gestellt werden, sind noch immer die gleichen.
Die Debatte über den Qualitätsverfall in den Medien gleicht einem Anfallsleiden. Sie wiederholt sich alle paar Jahre und verschwindet so plötzlich wie sie gekommen ist, denn die Öffentlichkeit gibt sich mit therapeutischen Antworten zufrieden, die meist nichts ändern, weil sie ohne gründliche Diagnose gegeben werden. Dem dauerhaften Vorwurf, die Öffentlich-Rechtlichen passten sich an die Privaten an, könnten ARD und ZDF entgehen, wenn sie sich aus eigenem Antrieb auf Qualitätsstandards und deren Überprüfung durch unabhängige Experten verpflichten würden. Die Zahl der Erstausstrahlungen und Eigenproduktionen fließt in die Qualitätsbewertung ebenso ein wie die Vielfalt der Genres in der Hauptsendezeit. Auch die Intensität der regionalen Berichterstattung und der Mut zum Experiment werden gute Noten verdienen. Die Freiheit von jedem werblichen Einfluss, die Einhaltung mitteleuropäischer Anstandsregeln, Respekt vor der Privatsphäre und der Nutzwert der Sendungen sind ebenfalls überprüfbar. So subjektiv einzelne Urteile dabei ausfallen mögen, so sind die Bewertungen durch internes wie externes Monitoring in der Summe objektivierbar, und sie werden auch schon in Deutschland erprobt.
Klare Qualitäts-Kriterien schützen die Macher vor einem programmfernen Controlling, das lediglich Minutenpreise vergleicht, sie in Bezug zu Marktanteilen setzt und wenig quotenstarke Sendungen in die Randlagen des Programms verschiebt und damit auch den Kulturredakteur der Verpflichtung enthebt, seine Sendung so attraktiv zu gestalten, dass jenseits einer treuen Zuschauerschaft neue Fangruppen einschalten. Unser "Weltbühne"-Kritiker von 1932 kannte den "Schlächtermeister Pachulkski, der zürnend im Funkhaus anläutet", warum man ihn für seine Gebühr "schon wieder mit der verfluchten Kammermusik und literarischen Vorträgen langweile". Pachulkski hat als Gebührenzahler und Kunde ein Anrecht auf Quiz, Unterhaltung und muntere Serien. Auch er verdient beste Ware. Die öffentlich-rechtlichen Sender sind in der Pflicht, in allen Genres klare Standards zu setzen.
Aber sie sind kein Orden strenger Observanz. Moralischer und ästhetischer Rigorismus bei der Qualitätsbewertung wäre ein Irrweg. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird bei seiner herkulischen Aufgabe, alle für sich zu gewinnen, nicht gegen jede Geschmacksverirrung immun bleiben. Er wird den allgegenwärtigen Trend zur Vulgarisierung nicht stoppen können, aber er darf ihn nicht fördern.
Während die Privatprogramme von Konjunkturschwankungen und Werbeeinbrüchen abhängig sind, gibt die kontinuierliche Gebührenfinanzierung ARD und ZDF eine Planungssicherheit, die ihnen Experimente in allen Sendeformen erlaubt und die für den dauerhaften Erhalt eines Korrespondentennetzes, für Großprojekte wie die "Die Manns" oder die "Buddenbrooks" und zeithistorische Dokumentationen unabdingbar ist. Gerade mit solchen Produktionen beweisen die Öffentlich-Rechtlichen, dass die Rundfunkgebühr mehr ist als ein reines Finanzierungsinstrument. Sie ist eine echte Qualitätssicherungsgebühr. Je mehr die Macher sich darüber im Klaren sind, desto sicherer ist ihre Zukunft in einem dualen Mediensystem.
Der Autor ist Intendant
des
Deutschlandradios (DLR).