Als Ska Keller in Werder ankommt, pustet der Wind Bratwurstduft über die Wiese. Die Jugendfeuerwehr lädt zum Zielspritzen ein, die AOK verschenkt Anti-Stress-Bälle: Europafest in Werder an der Havel, einem Städtchen in Westbrandenburg. Ska Keller - Bubikopf-Frisur, zierlich, schwarz gekleidet - zieht ihr Rollköfferchen über den staubigen Weg bis zum Stand der Grünen.Während sie die Parteifreunde umarmt, stimmt der Gemischte Chor auf der Bühne gerade "Mein kleiner grüner Kaktus" an.
Eigentlich eine schöne Begrüßung für die jüngste deutsche Europawahl-Kandidatin auf einem aussichtsreichen Listenplatz - am Revers ihres schwarzen Blazers prangt der stachlige Igel der "Grünen Jugend". Die 27-jährige Ska Keller steht auf Listenplatz 7 der Partei. Wenn bei der Europawahl für die Grünen alles wie geplant verläuft, könnten sie bis zu 13 Kandidaten nach Brüssel schicken, Ska wäre auf jeden Fall mit dabei. Heute soll sie für ihre Partei Stimmen auf dem Land sammeln. Ihr Auftrag ist klar: Den Menschen deutlich machen, warum Europäische Politik auch wichtig für das Leben in Werder ist.
Vor dem Grünen-Stand herrscht nicht gerade Gedränge, aber auch bei den Kandidaten von CDU, SPD und Linkspartei stehen mehr Menschen hinter den Tischen mit den Broschüren, als davor. Die CDU gegenüber hat Feuerzeuge und europablaue Frisbee-Scheiben im Angebot, die Grünen können nur EU-Verfassungen im Mini-Format bieten. Ska bückt sich und holt einige Blätter aus dem Koffer: Ein "Europa-Quiz", mit dem Leute an den Stand gelockt werden sollen. Wer die 10 Fragen am besten beantwortet, kann einen Keramik-Blumentopf gewinnen - natürlich in grün. Bisher gibt es noch keine Kandidaten.
Der Weg von Ska Keller nach Werder an der Havel war lang. Er führte sie über Rom, Oxford, Brüssel und Dortmund, obwohl die Studentin nur 300 Kilometer entfernt in Guben geboren wurde. Seit acht Jahren engagiert sie sich für grüne Politik und in jeder dieser Städte ging sie einen Schritt in Richtung EU-Parlament. Mit 13, 14 beginnt Ska - damals nach Punkerin - vegan zu leben und sich für Tierrechte zu interessieren. Durch ein Rhetorikseminar kommt sie eher zufällig zur "Grünen Jugend", der Nachwuchsorganisation der Grünen. Dort fällt sie schnell auf und macht Karriere: Sie wird Landesvorsitzende und in den Bundesvorstand gewählt.
Mit 22 gründet Ska in Rom die European Green Party mit, die erste gesamteuropäische Partei. In Oxford wird sie Sprecherin der Jungen Europäischen Grünen, die sie zwei Jahre lang in Brüssel führt. "Durch meine Arbeit, kenne ich die Europäischen Grünen und das EU-Parlament schon viel besser, als viele ältere Politiker aus Deutschland", weiß Ska um ihren Vorteil. So kamen ihre Parteifreunde gar nicht umhin, die junge Brandenburgerin schließlich auf einem Parteitag in Dortmund weit vorn auf die Bundesliste ihrer Partei zu nominieren.
Die meisten Parteien stellen zur Europawahl sogenannte "Gemeinsame Listen für alle Bundesländer" auf. Die Wähler können keine Einzelkandidaten ankreuzen, sondern nur die jeweilige Liste der favorisierten Partei. Je nach Stimmenanteil schickt die Partei dann ihre Kandidaten ins EU-Parlament. Auf der grünen Liste steht Ska, die Studentin der Islamwissenschaft, Judaistik und Turkologie, knapp hinter dem ehemaligen Attac-Chef Sven Giegold und dem ehemaligen Grünen-Vorsitzenden Reinhard Bütikofer, aber noch vor dem Bürgerrechtler Werner Schulz.
Ska Keller überzeugte die Grünen in ihrer Nominierungsrede mit modernen Wahlkampfideen: "Durch soziale Netzwerke, Blogs und Online-Mitwirkungsmöglichkeiten erreichen wir auch eine Gruppe, die von der Europapolitik kaum wahrgenommen wird: Leute unter 30."
Ska Keller, die eigentlich Franziska Maria heißt, hat die Arme verschränkt. Drei Besucher haben bisher am "Europa-Quiz" teilgenommen. Eine grauhaarige Frau schiebt ihr Fahrrad an den Stand und fragt "Wer sind sie?". "Ich bin ihre Kandidatin für das Europaparlament", antwortet Ska. Misstrauisch fragt die Frau weiter: "Und wo kommen sie her?" - "Ich bin Brandenburgerin". Das Eis ist gebrochen, zehn Minuten beantwortet Ska gelassen alle Fragen. Immer wieder betont sie, dass in der Europäischen Union die Richtlinien verabschiedet werden, die vorgeben wie Politik in Werder gemacht wird. Wenig später wird sie von einem Moderator gefragt, warum man sie wählen solle? Sie antwortet: "Wir sind die einzigen, die Antworten auf Klima- und Wirtschaftskrise haben und setzen auf nachhaltiges Wachstum". Verhaltenes Klatschen. Eine Frau mit Falten im Gesicht ruft: "Die ist klasse, die findet kluge, klare Worte." Die Frau ist aus Berlin zu Besuch. Bis vor zwei Stunden saß Ska auch noch in Berlin, auf dem Grünen-Parteitag in der zweiten Reihe, wenige Meter von den Vorsitzenden Cem Özdemir und Claudia Roth entfernt. Aber sie hat sich für Brandenburg entschieden. "Mein Listenplatz ist ziemlich sicher. Klar könnte ich auch zu Hause bleiben und sagen: Macht den Wahlkampf doch allein", sagt Ska Keller, "aber jede Veranstaltung dient dazu, unsere grüne Utopie vorzustellen, darum ist auch dieser Auftritt wichtig."
Seit Wochen schläft sie nachts nur wenige Stunden, verbringt viel Zeit auf Bahnhöfen und in Zügen. Sie hält Reden, sitzt auf Podiumsdiskussionen und in Tübingen ist sie auch schon mal Abends durch Kneipen gezogen, um junge Leute anzusprechen. Am Wochenende kann man Ska auch "mieten": In sogenannten "Livingroompartys", bei denen im Wohnzimmer gefeiert wird, will sie mit WG?s zusammen frühstücken oder fernsehen und dabei mit jungen Leuten ins Gespräch kommen. "Seitdem ich Politik mache, habe ich keine freien Wochenenden mehr", sagt Ska. Zwischen den Terminen füllt sie ihren Weblog und sendet mehrmals täglich kleine Neuigkeiten via Twitter an fast 500 Abonnenten.
Ska hätte heute in Barcelona auch eine Rede über Frauenpolitik halten können. Stattdessen sieht sie von ihrem Stand aus der Vorstellung der "Apfelblütenkönigin" zu. Größer könnte der Kontrast nicht sein. Die Blondine krächzt ins Mikrofon "Ich kann nur alle Mädchen ab 18 dazu aufrufen, sich als Königin zu bewerben, es ist das Schönste was man sich vorstellen kann." Ska nimmt's mit Humor: "Wir sind ja eher für die normalen Leute und stehen nicht so auf die Monarchie", sagt Ska lächelnd. Nach einer Stunde am Wahlkampfstand vereitelt die laute Musik einer Rapband jeden weiteren Gesprächsversuch. Ska gibt auf. Drei Mädchen, die sich zufällig am Stand informiert haben, gewinnen die Blumentöpfe. Foto. Händeschütteln. Tschüss. Ska muss zurück zum Zug, zum nächsten Termin. Nachts wird sie mit ihren Anhängern über den Tag twittern: "War heute in Werder auf dem Europafest. Gutes Feedback!".