Gazastreifen
Bettina Marx über eine Region zwischen Elend und Verzweiflung
Seit dem israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen im Sommer 2005 verlor die Weltöffentlichkeit ihr Interesse an dieser Region. Bettina Marx ist eine der wenigen ausländischen Journalisten, die den schmalen Küstenstreifen regelmäßig besucht und von dort weiterhin berichtet - allen Gefahren zum Trotz. In ihrem Buch "Gaza. Berichte aus einem Land ohne Hoffnung" kombiniert sie sachliche, gut recherchierte Berichte mit Reportagen über die 1,5 Millionen Palästinenser und ihre Alltagsprobleme: Sie sind arm und schlecht ernährt, können nicht ein- und ausreisen; jeder Zweite hat keine Arbeit, es fehlt an Medikamenten und sauberem Wasser und die Menschen leiden am Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung und an der inner-palästinensischen Gewalt.
Man liest und seufzt, legt das Buch aber nicht aus der Hand. Zum einen weil die ehemalige ARD-Korrespondentin klar schreibt, präzise, direkt und erfrischend politisch inkorrekt. Das Wort "Friedensprozess" setzt sie zum Beispiel in Anführungszeichen; sie schildert, wie die Rückkehr des PLO-Chefs Jassir Arafat nach Gaza als Volksfest inszeniert wurde, um seine begrenzte Popularität zu vertuschen. Sie erinnert uns, dass der israelische Rückzug aus Gaza dort als ein Sieg der Hamas gefeiert wurde. Sie schildert, wie Israel die mehrmals versprochene "sichere Verbindung" zwischen Gaza und dem Westjordanland trotz aller Bemühungen der Bush-Regierung niemals realisierte. Sie beweist anhand israelischer Quellen, dass nicht die Hamas, sondern Israel den Waffenstillstand Ende 2008 in Gaza gebrochen hat. Israel wollte demnach einen Raketenbeschuss der Hamas provozieren, um den zweiten Gazakrieg zu legitimieren. Marx spart auch nicht mit Kritik an den Palästinensern. Präsident Mahmud Abbas sei inkonsequent und zögerlich. Sie beschreibt, wie Hamas-Kämpfer ihre Gegner von der Fatah mit "unbeschreiblicher Brutalität" folterten und mordeten. Und Sie erinnert, dass die USA schuld an der Lähmung des politischen Systems der Palästinenser tragen, denn die setzten, gegen den Willen Israels und der Palästinenserbehörde, die Parlamentswahlen durch, bei denen ganz demokratisch die Hamas an die Macht kam, obwohl sie weder Israel noch die Oslo-Verträge anerkennt.
Doch warum haben die Palästinenser die Hamas gewählt? Marx bietet verschiedene plausible Erklärungen für diese Frage, die in der israelisch-palästinensischen Medienschlacht kaum Platz finden: Die Uneinigkeit der Fatah, die in vielen Wahlkreisen konkurrierende Kandidaten aufstellte, ist eine. Die Enttäuschung von der korrupten Fatah, die in jahrelangen Verhandlungen mit Israel keine spürbaren Verbesserungen für sie erzielte, eine andere. Der Wille der Gazaner, mit der Hamas Israel zu vernichten, ist jedenfalls keine.
In Gaza leben aber nicht nur Militante, die Raketen auf Israel abfeuern, sondern Menschen mit abweichenden Ansichten - obewohl der Widerstand gegen den Terror lebensgefährlich sein kann. So berichtet Marx beispielsweise, wie in Beit Hanoun, der nördlichsten Stadt des Gazastreifens, Radikale die israelische Stadt Sderot beschossen. Um einen Gegenangriff der israelischen Armee zu verhindern, rannte der Palästinenser Zuheir Shehade al Kafarna hinaus, um die Militanten zu verjagen. Er wurde sofort von einer israelischen Rakete getötet. Die Empörung richtete sich aber nicht nur gegen Israel. Die Familie und ihre Nachbarn verhinderten, dass die militanten Islamisten sich in den Begräbniszug einreihten und ihn für ihre Zwecke missbrauchten. In den Trauerreden warfen sie den Militanten vor, rücksichtslos das Leben der Zivilisten zu gefährden.
Nach dieser Lektüre bekommen die Menschen in den kurzen Fernsehberichten - der Nahe Osten ist ein Quotenkiller bei den elektronischen Medien - ein Gesicht und die "Gewaltspirale" eine Logik. Was leider fehlt, ist eine schematische Chronologie, und auch eine leserliche Landkarte wäre für den Leser hilfreich gewesen.
Gaza. Berichte aus einem Land ohne Hoffnung.
Zweitausendeins Verlag, Frankfurt/M. 2009; 350 S., 19,90 ¤