ÜBERFISCHUNG
Die Fischbestände des Mittelmeers werden gnadenlos ausgebeutet. Besonders dramatisch ist die Lage des Roten Thuns - und der Haie
Der Rote Thun ist einer der Spitzenathleten im Reich der Fische: Er wird mehr als vier Meter lang, fast 700 Kilogramm schwer und bringt es auf Geschwindigkeiten von bis zu 80 Stundenkilo-metern. Rekorde erzielt der Blauflossen-Thunfisch, so sein zweiter Name, aber nicht nur unter Wasser: Kaum eine Art ist so wertvoll wie der elegante Jäger mit dem roten, festen Fleisch. Bis zu 170.000 Dollar zahlen Feinschmecker in Tokio für die besten Exemplare, deren Fleisch zu Sushi verarbeitet wird. Die enorme Nachfrage in Japan hat dazu geführt, dass der Thunfischfang im Mittelmeer zu einem Milliardengeschäft geworden ist. Fraglich ist, wie lange noch.
Die Bestände sind gegenüber den 1970er Jahren um 90 Prozent gesunken. Schon jetzt werden fast nur noch junge Thunfische gefangen, die zumeist in Käfig-Farmen für den japanischen Markt gemästet werden. "Die Mastbetriebe breiten sich in allen Mittelmeerstaaten aus, sind aber ökologisch höchst bedenklich", sagt Rainer Froese, Professor für Fischereibiologie an der Universität Kiel. Für ein Kilogramm Thunfischfleisch müssen bis zu 20 Kilo Futterfische gefangen werden. Wegen dieses enormen Bedarfs geraten die Bestände von Futterfischen wie Makrele, Sardelle und Sardine im Mittelmeer immer stärker unter Druck.
Die Anrainerstaaten lassen der Entwicklung freien Lauf, weil sie am Thunfisch verdienen. Es ist längst verboten, die Thunfischschwärme mit Flugzeugen zu orten, dennoch wird dies immer wieder beobachtet. Treibnetze, denen Delfine zum Opfer fallen, sind im Mittelmeer untersagt - und trotzdem nicht ganz verschwunden. Das größten Problem ist die illegale Fischerei: In den vergangenen Jahren wurde oft das Doppelte der Menge gefangen, die die Kommission zum Schutz der atlantischen Thunfische (ICCAT) festgesetzt hat. Die Verstöße werden aber oft nicht zur Anzeige gebracht. "Die Fischereiregeln werden gerade in den Mittelmeerstaaten schlecht umgesetzt", resümiert Sofia Tsenikli von Greenpeace in Griechenland. 2007 waren die Vergehen so eklatant, dass die EU-Kommission plötzlich ein Fangverbot für den Thunfisch erließ und Strafverfahren gegen sieben Staaten einleitete. Auch 2008 und 2009 setzte Brüssel der Jagd vorzeitig ein Ende. Und die ICCAT senkte die Fangquoten. Dennoch wurden weiter neue Thunfisch-Boote gebaut.
Doch das Blatt könnte sich wenden: Fünf Staaten, darunter Frankreich, Großbritannien und Deutschland, fordern nun ein Handelsverbot für den Roten Thun. Eine Entscheidung wird bei der Konferenz des Washingtoner Artenschutzabkommens im März 2010 fallen. Umweltverbände hoffen auch auf die für 2012 geplante EU-Fischereireform. Vorgesehen sind unter anderem schärfere Kontrollen, eine Obergrenze für die Flottengröße und der Abbau der Subventionen für neue Schiffe. "Wir hoffen vor allem auf Schutzgebiete für das Mittelmeer", sagt Tsenikli. Derzeit ist nur ein Prozent des Mare nostrum umfassend geschützt. Die EU-Kommission forderte die Mittelmeerstaaten bereits auf, bis 2008 neue Küstenschutzgebiete auszuweisen. "Passiert ist bisher nichts", klagt Tsenikli. Egal, was die EU tut - sie erreicht nur 35 Prozent der Mittelmeerfischerei. Denn der Großteil des Jahresfangs von 1,6 Millionen Tonnen geht auf das Konto der 15 Anrainerstaaten, die nicht zur EU gehören; fast ein Drittel der Beute machen türkische Schiffe. Die Vielstaaterei ist eines der größten Probleme, denn es macht ein koordiniertes Fischereimanagement unmöglich. "Ein Großteil der Mittelmeerfischerei geschieht unreguliert und ohne Fangquoten", erklärt Karoline Schacht vom World Wide Fund for Nature (WWF). Für nordeuropäische Gewässer schlägt der International Council for the Exploration of the Sea (ICES) der EU Fangquoten vor. Ihrem südlichen Pendant, der Mediterranean Science Commission (CIESM), fehlen solche Kompetenzen. Für 80 Prozent der Bestände liegen nicht einmal verlässliche Daten vor, was Aussagen zur Überfischung schwierig macht. Die Europäische Umweltagentur glaubt, dass 65 Prozent der kommerziellen Bestände überfischt sind. Umweltorganisationen sind pessimistischer.
Informationen zu Fangmengen und Vorschriften der Länder, die nicht zur EU gehören, sind schwer zu bekommen; die Kontrollen gelten als lax. Die Generelle Fischereikommission für das Mittelmeer, ein Gremium der Welternährungsorganisation FAO, bemüht sich zwar um eine bessere Zusammenarbeit. Doch das Hauptproblem bleibt: der fehlende Wille, die Einhaltung der Regeln zu kontrollieren. "Ich kann in den Mittelmeerstaaten kein Umdenken erkennen. Es muss noch schlimmer werden, damit es besser wird", sagt der Kieler Forscher Froese. Bei den Haien geht das kaum: Kanadische Forscher haben herausgefunden, dass der Bestand von fünf großen Mittelmeerarten in 200 Jahren um 96 Prozent zurückgegangen ist; ein Hai-Aktionsplan der EU soll nun die Rettung bringen. Rochen und Schwertfische stehen ebenfalls vor dem Kollaps. Auch Seehecht und Rotbarbe gelten als stark überfischt. Selbst die Sportfischerei hat ihre Spuren hinterlassen: Der Zackenbarsch, lange eine begehrte Harpunen-Trophäe, ist vielerorts ausgestorben. "Die großen Arten verschwinden. Und den kleinen, eh stark befischten Arten wird deshalb noch stärker nachgestellt. Wir fischen uns die Nahrungskette hinab", erklärt Froese. Die Überfischung hat weitreichende Folgen: Weil ihre Fressfeinde verschwinden, nehmen die Quallen im Mittelmeer zu. Touristen leiden immer öfter unter Invasionen der teilweise gefährlichen Tiere. Begünstigt wird die Überfischung des Mittelmeeres durch seine Nährstoffarmut: Weil den Fischen weniger Nahrung zur Verfügung steht als etwa im Atlantik, sind die Schwärme von Natur aus kleiner. Zudem ist die flache Schelfzone, in der sich viele Schwärme aufhalten, sehr schmal und deshalb leicht zu befischen. Auch deshalb sind weite Küstenabschnitte mittlerweile leer gefangen. Besonders Fischer mit sehr kleinen Booten spüren das. Vor allem in Griechenland mit der größten EU-Flotte.
Die griechischen Schiffe gehen, ebenso wie die italienischen, fast nur im Mittelmeer auf Fang. Spanien und Frankreich hingegen fischen vorwiegend in atlantischen Gewässern und Übersee, das Mittelmeer ist für sie weniger wichtig. Insgesamt trägt es nur noch neun Prozent zur gesamten Fangmenge der EU bei. Obwohl die Flotte technisch immer weiter aufgerüstet worden ist, sind die Fänge der EU-Staaten seit Anfang der 1990er Jahre um 22 Prozent gesunken. Ergiebiger sind noch die Fischgründe vor den Küsten der Anrainer in Afrika und Nahost: Sie haben im gleichen Zeitraum ihre Fänge um fast die Hälfte gesteigert. In Ländern wie Ägypten, Israel und der Türkei boomt auch die Aquakultur, die in den EU-Mittelmeeranrainern stagniert. Mit einer neuen Strategie will Brüssel nun den Ausbau der Fischzucht fördern. Kritiker monieren, dass derlei Pläne die Überfischung vorantreiben, weil der Druck auf die Futterfische steigt. Die EU hat deshalb Ende Juni Bestimmungen zur ökologischen Aquakultur verabschiedet, die Umweltorganisationen aber als zu lasch kritisieren. Parallel entwickeln sie eigene Zertifikate. "Wir brauchen ein global gültiges Siegel, um die nachhaltige Aquakultur durchzusetzen", sagt Catherine Zucco, Fischzucht-Expertin des WWF. Von der Aquakultur, so glauben die Experten, wird die Zukunft der Fischerei abhängen - auch die des Mittelmeers, wo sich die Fischereiindustrie gerade der eigenen Zukunft beraubt. "Wir steuern auf ein echtes Desaster zu. Es liegt in der Verantwortung der Politik, gegenzulenken", sagt Sofia Tsenikli. "Die EU muss viel drastischere Maßnahmen ergreifen und die Anrainer von einer nachhaltigeren Fischerei überzeugen. Dann hat das Mittelmeer wieder eine Chance".
Der Autor ist Redakteur der
Zeitschrift "Geo International".