GESCHICHTE
Menschen auf der Durchreise prägen den Mittelmeerraum seit Jahrtausenden
Das Mittelmeer ist zugleich ein Ort und ein Begriff. Wir sprechen vom Mittelmeer und meinen damit die Gewässer, die sich östlich der Straße von Gibraltar erstrecken. Durch den vom Menschen geschaffenen Suez-Kanal sind die mit dem Roten Meer und durch den natürlichen Kanal der Dardanellen und des Bosporus mit dem Schwarzen Meer verbunden. Etwas allgemeiner sprechen wir vom Mittelmeer als dem Meer, den darin befindlichen Inseln und den angrenzenden Ländern: Sie bestanden im Jahr 2008 aus 25 politischen Gebilden, darunter einer Kronkolonie (Gibraltar), mehreren Militärstützpunkten unter britischer Staatshoheit (auf Zypern), einem Staat, der nur von einem einzigen Land anerkannt wird (Nord-Zypern), einer Enklave mit unbestimmtem Status (Gaza), einem Mini-Staat (Monaco) und mehreren wettbewerbsstarken, fest in der Europäischen Union verankerten Volkswirtschaften. Die Versuche des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, die Mittelmeerstaaten in einer Union Méditerranéenne zusammenzuführen, sind erwartungsgemäß auf Widerstand gestoßen. Denn manche Staaten lehnen die Anwesenheit oder die bloße Existenz bestimmter anderer Staaten ab. Dies gilt vor allem für Libyen, das nicht mit Israel an einem Tisch sitzen möchte.
Wenn man die Geschichte des Mittelmeers verstehen will, muss man Verknüpfungen zwischen Gesellschaften untersuchen, die weit entfernt voneinander liegen. Das Augenmerk muss sich besonders auf die Handelsbeziehungen, den Aufbau von Vielvölkerimperien, die Wanderungsbewegungen von Völkern, Pilgern, Sklaven und (in jüngster Zeit) Touristen richten. Ebenso wichtig ist die Ausbreitung von Religionen auf neue Kontinente. Die Spuren dieser Phänomene lassen sich im ganzen Mittelmeerraum beobachten: an jenem Meer, an dem sich Europa, Afrika und Asien treffen und um dessen Herrschaft sich Christentum und Islam erbittert bekämpft haben. Abseits der Inseln hat das Meer keine ständigen Bewohner. Und dennoch hat es eine menschliche Geschichte, die auch als Vorbild für die Geschichte anderer Meere dienen kann, zum Beispiel der Ostsee, des Indischen Ozeans oder der Karibik, oder auch für weithin unbewohnbare trockene offene Gebiete wie die Sahara.
Fernand Braudel prägte als französischer Historiker die Betrachtungen über diese Region. Seine Studie über das Mittelmeer im Zeitalter Philipps II. von Spanien ist nach wie vor eines der bedeutendsten Geschichtswerke des 20. Jahrhunderts. Braudel legte den Schwerpunkt darauf, dass die natürlichen Eigenschaften des Mittelmeers die Erfahrungen des Menschen formten. In der von ihm beschriebenen Welt kam es unterhalb der oberflächlichen Gewalt der Kriege und Imperien kaum zu Veränderungen.
Allerdings ist es offenbar etwas völlig anderes, die menschliche Geschichte eines Meeres zu schreiben als die Geschichte eines Volkes oder Gebietes darzustellen. Die menschlichen Bewohner eines Meeres befinden sich auf der Durchreise: Kaufleute, Piraten, Kriegsflotten, Flüchtlinge, Missionare, Forscher, Pilger und Touristen, die kreuz und quer über das Meer fahren und seine Wasserflächen erobern. Gelegentlich führte diese Eroberung zur Etablierung einer Vorherrschaft: beispielsweise wenn es gelang, die Kontrolle über Ein- und Ausfalltore wie die Straße von Gibraltar, die Dardanellen oder das Ionische Meer zu gewinnen. Dies geschah im 18. und frühen 19. Jahrhundert, als Schiffe aus Großbritannien und sogar Russland mit Frankreich um die Herrschaft über das Mittelmeer buhlten. Die Briten besetzten Menorca, während die Russen vorübergehend die westlich von Griechenland gelegene Insel Korfu in Besitz nahmen.
Die Geschichte des Mittelmeers ist die Geschichte von Menschen, die sich quer über einen Raum hinweg wechselseitig beeinflussten. Dieser Raum führte viele der großen Zivilisationen der Antike und die rivalisierenden Reiche des Mittelalters und der Moderne zusammen. Auch die großen monotheistischen Religionen in allen konfessionellen Varianten begegneten sich hier.
Kaufleute traten häufig als Mittler zwischen äußerst unterschiedlichen Kulturen auf. Genueser, Katalanen und andere gründeten bereits im 12. Jahrhundert in Städten wie Bejaja in Algerien, Tunis und Alexandria Handelsquartiere und Konsulate. Noch im 19. Jahrhundert spielten die Vertretungen ausländischer Nationen im Hinblick auf Handelserleichterungen eine wichtige Rolle. Die gerade erst gegründeten Vereinigten Staaten hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts Konsuln in Tunis. Der Herrscher von Algier schlug 1827 dem französischen Konsul ins Gesicht. Dies war der Beginn des Prozesses, der drei Jahre später zur Eroberung der Stadt Algier durch die Franzosen führte. In Alexandria waren um 1900 Konsuln aus vielen Ländern vertreten, und fast alle wohlhabenden Bürger befanden sich unter ihrem Schutz: Türkische Juden besaßen italienische Pässe, der griechische Konsul kümmerte sich um unzählige griechische Bürger. Die Unterschiede, die den Handel begünstigten, wurden bis zu einem gewissen Grad von den physikalischen Abweichungen zwischen dem heißen und trockenen Klima des südöstlichen Mittelmeers und dem eher gemäßigten Klima an den Küsten Norditaliens und der Provence geprägt. Daneben bestimmten aber auch kulturelle Entscheidungen, was angebaut werden sollte: Im Mittelalter sahen die Westeuropäer den Boden als für den Weizenanbau geeignet an, aber ihre islamischen Vorgänger hatten im 10. und 11. Jahrhundert auf den gleichen Böden Baumwolle, Farbstoffe und Reis angebaut. Und dann gab es noch die Produkte aus fernen Ländern, die im ganzen Mittelmeerraum gehandelt wurden, beispielsweise die Gewürze aus dem Osten, die aus paradiesischen Regionen am Rand der Welt zu kommen schienen, oder das Gold Afrikas oder die Sklaven aus der Schwarzmeerregion.
In den Darstellungen der Kartografen der Antike und des Mittelalters drehte sich die bekannte Welt um den Treffpunkt Europas, Asiens und Afrikas: das Mittelmeer. Dort trafen die Religionen, Volkswirtschaften und politischen Systeme aufeinander, sogen einander auf und stießen zusammen. Erst im 16. Jahrhundert wurde das Mittelmeer allmählich zu einer Nebenstelle der atlantischen Handels- und Politikverflechtungen. Im 18. Jahrhundert waren Kaufleute und Schiffsflotten aus England, Holland und sogar Skandinavien häufig im Mittelmeer anzutreffen, während die ursprünglichen Zentren wie Venedig und Dubrovnik ihren Niedergang erlebten.
Die Ströme und Winde des Mittelmeers bestimmten weitgehend, wer wo und wann ankam, und erleichterten und blockierten damit den Handel und die Schiffsbewegungen. Aber wenn wir die Geschichte des Mittelmeers verstehen wollen, dürfen wir vor allem die Menschen nicht vergessen, die in den vergangenen Jahrhunderten das Meer überquerten: Krieger, Pilger, Flüchtlinge, Kaufleute und Piraten, die auf die eine oder andere Weise alle Seiten und alle Inseln des Mittelmeers miteinander in Kontakt brachten.
Der Autor ist Professor für mediterrane Geschichte an der Universität Cambridge. Derzeit arbeitet er an einem Buch über "Die menschliche Geschichte des Mittelmeeres".
Übersetzung: Thomas Santelmann