DEUTSCHE EINHEIT
Daniela Dahn will den Westen mit alten Ost-Rezepten retten
Daniela Dahn hält Gericht über zwanzig Jahre Wiedervereinigung. Ihr Urteil fällt ebenso hart wie herausfordernd aus: "Ohne Osten keinen Westen." So war das schon während des Kalten Kriegs und so wird es auch zukünftig sein, wenn sich der Westen nicht endlich die positiven "östlichen Praktiken" der Vergangenheit zu nutze macht, lautet die steile These. Denn: "Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall (...) gehört keine Prophetie mehr zu der absehbaren Gewissheit, dass auch der Kapitalismus nicht übrig bleiben wird."
Der Westen hat in ihren Augen abgewirtschaftet und seine Chancen für eine menschenfreundliche Politik vertan. Angesichts fallender Börsenkurse und steigender Arbeitsloszahlen mag den ein oder anderen das Gefühl überkommen, unsere Marktwirtschaft verdiene ihr wohlklingendes Attribut "sozial" nicht mehr. Doch ob Dahns traumatisches Verhältnis zum Kapitalismus und ihre Vision vom demokratischen Sozialismus den richtigen Weg weisen, darf man wohl bezweifeln.
Es ist schon sehr gewagt, in den "sozialistischen Ideen und Praktiken" das maßgebliche Korrektiv zu sehen, dass die alte bundesrepublikanische Marktwirtschaft im Zaum gehalten habe. Gewiss hat die Systemkonkurrenz den Westen ermuntert, sein soziales Netz dichter und weicher zu knüpfen. Doch die DDR war in Grundsatzfragen zur Sozial- und Wirtschaftspolitik niemals ihr Vorbild. Die westdeutschen Parteien haben nach 1945 weitgehend selbstständig ihre Lehren aus dem kriegerischen und ungezügelten Kapitalismus der NS-Zeit gezogen. Dazu bedurfte es nicht der "doppelten Staatsgründung", sondern einer regulativen Idee. Die fand sich im neuartigen Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Niemand wird behaupten wollen, dass diese Wirtschaftsordnung der Weisheit letzter Schluss ist, doch sie ist und bleibt Ausgangspunkt für richtungsweisende Reformen.
Auch die studierte Journalistin will dieses Modell nicht gänzlich abschaffen, aber doch soweit umgestaltet wissen, dass es eher sozialistisch als marktwirtschaftlich organisiert ist. Insofern liest sich der knapp 300-seitige Essay wie eine intellektuelle Streitschrift der Linken, in der auch die "sozial-visionären" Zitate eines Oskar Lafontaine nicht fehlen dürfen. Ihre Vorschläge zur gerechten Besteuerung und Umverteilung von Kapitalvermögen, zur sozialen Grundsicherung oder zu mehr bürgerlicher Mitbestimmung in Wirtschaftsfragen klingen verlockend. Doch ob solche Pläne letztlich praktikabel, vor allem aber finanzierbar sind, darauf gibt sie freilich keine befriedigenden Antworten.
Ihre volkswirtschaftlichen Überschlagsrechnungen und ebenso kühnen Vergleiche zwischen den niedrigen Preisen von Tintenpatronen in der DDR und den natürlich überteuerten im wiedervereinigten Deutschland zeugen nicht unbedingt von ökonomischem Fachwissen. Auch über den "ultimativen Ostvorsprung" in punkto Landwirtschaft, Verpackungswesen, Emanzipation oder Transportlogistik ließe sich trefflich streiten. Bedenkt man, dass diese vermeintlichen "Errungenschaften" nicht nur auf vernünftigen Einsichten, sondern oftmals auf Zwängen beruhten.
Dahns Stärke liegt eindeutig in der Enthüllung sozialer, politischer und juristischer Missstände. Zurecht weist sie auf eklatante Versäumnisse und Ungerechtigkeiten im Vereinigungsprozess hin. Auch ihre Kritik am schleichenden Demokratieabbau muss erlaubt sein. Bemühte sie für sich und ihre Einwände bloß nicht den Begriff des Zweifels, mit dem sich Aufklärer allzu gerne schmücken. Würde sie es mit der erkenntnisfördernden Skepsis wirklich ernst nehmen, müsste sie die "Sieger" differenzierter porträtieren und auch ihre Verbesserungsvorschläge noch einmal überdenken. So aber liest sich das Buch wie die Anklage eines "Besserossis" an viele "Besserwessis".
Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 304 S., 18,90 ¤