WIedergutmachung
Mit dem Luxemburger Abkommen verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von Entschädigungen an Israel und jüdische Opfer des Nazi-Terrors.
Unter der Federführung des "Jena Centers Geschichte des 20. Jahrhunderts" und des "Minerva Instituts für deutsche Geschichte" an der Universität Tel Aviv beteiligten sich 24 deutsche, israelische und US-amerikanische Autoren an einem gigantischen Projekt: Sie wollten die Praxis der sogenannten Wiedergutmachung an den Opfern des Holocaust rekonstruieren. Anhand der für die Forschung freigegebenen 625.000 Einzelfallakten von Antragsstellern aus Nordrhein-Westfalen behandelten sie zahlreiche Fragestellungen und analysierten die Entscheidungsgründe. Die wissenschaftliche Auswertung der Akten fand seit Ende 2000 statt, auch wenn dies "längst nicht erschöpfend" habe geschehen können, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung betonen. Immerhin gelang es den Autoren des empfehlenswerten Sammelbandes, viele strittig diskutierte Themen zu beleuchten und dabei mit lange verbreiteten Spekulationen und Vorurteilen aufzuräumen.
Die Herausgeber weisen darauf hin, dass die Forschung zur Wiedergutmachung in den letzten beiden Jahrzehnten hierzulande zu einem Interpretationskonsens geführt habe, während in Israel noch immer die gezielte journalistische oder politische Skandalisierung dominiere. Dazu trägt bei, dass unabhängige Forscher weder Zugang zu den individuellen Entschädigungsakten noch zu den Akten des Amtes für Invalidenrehabilitation im Finanzministerium erhalten. Infolgedessen existiert bis heute keine einzige israelische Studie zum Thema. Einzige Ausnahme ist das Buch des Journalisten und Holocaust-Überlebenden Raul Teitelbaum "Die biologische Lösung. Wie die Shoah ‚wiedergutgemacht' wurde" (Verlag zu Klampen, 2008). Auch wenn einige Autoren des Sammelbandes mitunter ihre Ergebnisse sehr emotional darlegen, ist ihnen ein Standartwerk über die Praxis der Wiedergutmachung gelungen.
Es ist unbestritten, dass eine materielle Entschädigung weder über den Verlust geliebter Familienmitglieder hinwegtrösten noch die Qualen einer jahrelangen Haft in einem Konzentrationslager "wiedergutmachen" kann. Pro Tag erhielten die ehemaligen Lagerinsassen umgerechnet fünf D-Mark. Dennoch bewerten viele Historiker und Politiker weltweit die Wiedergutmachung für das nationalsozialistisches Unrecht als den historisch beispiellosen Versuch, den Opfern einer "singulär verbrecherischen Politik zumindest ansatzweise Genugtuung und Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen". Von daher gelten die Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik als ein erfolgreiches Modell beim Umgang mit historischem Unrecht. Vor allem im Vergleich zu ähnlichen Verbrechen wie etwa dem Völkermord in Ruanda oder dem Völkermord an den Armeniern in der Türkei während und nach dem Ersten Weltkrieg.
Ausgangspunkt war das sogenannte "Luxemburger Abkommen", das die Bundesrepublik Deutschland und der Staat Israel im September 1952 unterzeichneten. Darin verpflichtete sich Bonn, sowohl an Israel als auch an die Personen, die unter der Nazi-Diktatur gelitten hatten, Entschädigungen zu zahlen. Vor allem Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte durchgesetzt, dass die Leistungen nicht nur dem jungen Staat zugute kommen sollten, sondern dem jüdischen Volk insgesamt, also auch den außerhalb Israels lebenden Juden.
Wie die Archivdokumente belegen, gingen die israelischen Politiker nicht davon aus, dass Deutschland mehr als eine Milliarde D-Mark zahlen würde. Am Ende verpflichtete sich die Bundesrepublik, dem Staat Israel drei Milliarden D-Mark und der Jewish Claims Conference 500 Millionen D-Mark für individuelle Entschädigungen zu zahlen. Gleichzeitig wurde vereinbart, dass die individuellen Entschädigungen für körperliche und psychische Schäden in der Globalzahlung an Tel Aviv enthalten seien, sofern es sich um in Israel lebende Opfer handelte. Tatsächlich zahlte das Bundesministerium der Finanzen bis Dezember 2007 65,114 Milliarden Euro an Wiedergutmachungsleistungen. Umso erstaunlicher ist es, dass im Sammelband von "eher symbolischen Zahlungen" die Rede ist und die Bundesrepublik Deutschland als "Tätergesellschaft" bezeichnet wird.
Doch wieso zahlte Deutschland ein Vielfaches der ursprünglich zugesagten 3,5 Milliarden D-Mark? In vielen Beiträgen werten die Historiker die Wiedergutmachungspraxis der Bundesrepublik - das DDR-Regime lehnte Zahlungen rundheraus ab - als integralen Bestandteil des gesellschaftlichen Selbstaufklärungsprozesses über die nationalsozialistische Vergangenheit und als eine Art "Befreiungsschlag" der jungen Bundesrepublik .
Die Autoren erläutern zudem, wie es zu den weiteren Leistungen kam und warum sich Deutschland bereit erklärte, nach dem Fall der Mauer auch die Opfergruppen aus Osteuropa in die Entschädigungsprogramme aufzunehmen.
Daneben werden die Debatte über die "zweite Schuld" und der bürokratische "Kleinkrieg gegen die Opfer" dargestellt. Gleichzeitig thematisieren die Autoren die "notorischen" Konflikte zwischen Verteilungsgerechtigkeit, lebensweltlichen Gerechtigkeitsvorstellungen und dem rechtsstaatlichen Normierungsbedürfnis. Auch der Begriff "Wiedergutmachung" wird analysiert. Vielen gilt er als zu harmlos und als Versuch, das Unrecht zu relativieren.
Kristina Meyer und Boris Spernol, die eine statistische Bilanz der Wiedergutmachung in Nordrhein-Westfalen präsentieren, weisen darauf hin, dass der Rahmen der Wiedergutmachung allein durch Gesetze vorgegeben wurde. Deshalb lasse sich die Praxis der Wiedergutmachung auch nur innerhalb dieses Rahmens bewerten. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es durchaus auch Verfahren gab, in denen unberechtigte Personen Entschädigungsleistungen beanspruchten und erhielten. Dabei handle es sich um Betrugsfälle, in denen Antragsteller ihren Verfolgungstatbestand "erfunden" haben.
Meyer und Spernol empfehlen, sich von einem dichotomischen Denken in starren Fronten - "gute Antragsteller", "böse Behörden" - zu lösen. Zugleich versuchen sie, die Realität hinter der Statistik aufzuspüren: Was bedeutet es beispielsweise, dass 43 Prozent aller Anträge nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) mindestens teilweise erfolgreich waren? "Ist das ein ‚guter' Wert?", fragen die Autoren.
Die Gründe, die zu einer Ablehnung führten, waren unterschiedlich: In manchen Fällen mögen die Antragsteller zunächst nur pro forma eine Entschädigung beantragt haben, um Fristen einzuhalten, mutmaßen Meyer und Spernol. Nachdem der Antrag gestellt war, reichten Antragsteller vielleicht keine weiteren Unterlagen ein, so dass die Behörde gar nicht entscheiden konnte. Sicher sei, dass nicht alle NS-Verfolgten eine Entschädigung erhielten, obwohl sie laut BEG einen Anspruch darauf hatten. Allerdings sei dies weder auf einen "Kleinkrieg gegen die Opfer" zurückzuführen noch könne von einem "Sieg der Sparsamkeit" die Rede sein.
Die Praxis der Wiedergutmachung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009; 773 S. 52 Euro.