Das Parlament: Seit wenigen Monaten gilt in Russland das "Gesetz über Gesellschaftliche Organisationen", das nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen das Ziel hat, diese in ihrer Arbeit zu behindern. Spüren Sie bereits Auswirkungen?
Ella Poljakowa: Ja. Dazu gehören sehr umständliche Regeln für die Finanzverwaltung. Wir müssen ständig irgendetwas nachweisen. Außerdem wollen die Behörden wissen, wer unsere Veranstaltungen besucht hatte - mit Namen und Adressen. Sie wollen eingeladen werden, sie wollen andauernd Berichte, kurz: Sie kontrollieren uns vollständig. Ein Fehler kann zu einem Verbot führen. Auch inhaltlich mischen sich die Behörden ein. Jede Kritik an der Regierung kann als "extremistisch" eingestuft werden und Grund für die Schließung sein. Abgesehen von diesem Gesetz hat die Stadt St. Petersburg uns die Räumlichkeiten gekündigt. Im Grunde kommt das einem Versammlungsverbot gleich - wie in der Sowjetunion.
Das Parlament: Beeinflusst der Mord an der regierungskritischen Journalistin Politkowskaja auch Ihre Arbeit?
Ella Poljakowa: Ich denke, das war auch als ein Zeichen an alle regierungskritischen Organisationen gedacht. Es soll Angst geschürt werden, und es kommen tatsächlich weniger Menschen zu unseren Informationsveranstaltungen als vorher. Politisch erwarten wir in diesem Zusammenhang einen Angriff von offizieller Seite. Denn wir haben nach dem Mord an Anna Politkowskaja einen Brief an die UNO geschrieben, in dem wir um Hilfe bei der Aufklärung bitten. Daraufhin gab es sofort Vorwürfe: Wir hätten die Regierung, die Behörden sowie die Armee angegriffen und Kontakt ins Ausland aufgenommen.
Das Parlament: Was ist das Ziel Ihrer Arbeit?
Ella Poljakowa: Wir wollen, dass die Menschen in Russland die Menschenrechte, die seit 1993 offiziell anerkannt sind, in Anspruch nehmen. Inzwischen wird das immer schwieriger.
Das Parlament: Inwiefern?
Ella Poljakowa: Es gibt keine Meinungsfreiheit und es gibt keine Informationsfreiheit. Weder die Justiz- noch die Militärreform gehen voran. Wir beobachten, wie sich Brutalität breit macht und wir beobachten zunehmend faschistische Tendenzen. Anfang September gab es in Kondapoga in Karelien einen Pogrom gegen tschetschenische Flüchtlinge. In St. Petersburg gibt es Überfälle auf ausländische Studenten. Faschistische Literatur ist überall zu bekommen, wird sogar in Universitäten benutzt.
Das Parlament: Wie schätzen Sie die Lage in Tschetschenien ein?
Ella Poljakowa: Es wird immer schlimmer. Das Leben der Zivilisten ist eine Katastrophe, und Putin tut nichts dagegen - im Gegenteil. Inzwischen tauchen marodierende Soldaten aus dem Tschetschenienkrieg auch in Russland auf. Das Problem beschränkt sich also nicht mehr auf Tschetschenien.
Das Interview führte Gesa von Leesen