Chance - das bedeutet laut Duden "günstige Gelegenheit" oder "Aussicht auf Erfolg" und ist damit etwas, das sich kein Politiker gern entgehen lässt. Auch Maik Reichel hat sie ergriffen: die Chance, mehr zu sein als Kreistagsabgeordneter und Bürgermeister der 4.000-Seelen-Gemeinde Lützen in Sachsen-Anhalt. Seit einem Jahr hält den 35-jährigen SPD-Abgeordneten das Bundestagsmandat für den Wahlkreis 74 (Burgenland) stärker in Atem, als er ursprünglich erwartet hatte.
Nach den eher alltagspraktischen Themen einer kleinen Gemeinde beschäftigt er sich nun mit politischen Grundsatzfragen. Die Auseinandersetzungen über das SED-Unrecht und damit verbundene Fragen nach möglichen Entschädigungszahlungen stehen genauso auf seiner Agenda wie sein Einsatz für mehr direkte Demokratie auf Bundesebene.
Es hat sich viel verändert für den Historiker und Kunsthistoriker, der auch schon vor seinem Einzug in den Bundestag ein ausgefülltes Leben hatte. Reichel leitete ab 1999 das Museum Lützen, wurde im gleichen Jahr Vorsitzender des Kreistages Weißenfels und ist seit 2001 auch noch Bürgermeister seiner Heimatstadt. Auch privat war ihm nicht langweilig: Im Mai 2005 konnten Reichel und seine Frau sich über Nachwuchs freuen. Als dann unerwartet die vorgezogene Bundestagswahl anstand, warf er seinen Hut dennoch in den Ring - obwohl damals, wie er sich erinnert, die Aussichten für die Sozialdemokraten "jenseits von Gut und Böse" lagen.
Nun sitzt Reichel politisch ganz oben. Doch noch immer hat er Verständnis für die Probleme ganz unten. Die nämlich muss er in der Kommune gemeinsam mit dem Stadtrat lösen. "Ich halte es für einen Vorteil, gleichzeitig Abgeordneter und Bürgermeister zu sein. Das mögen andere anders sehen. Das Mandat leidet nicht darunter, und einen Interessenkonflikt sehe ich auch nicht." Reichel glaubt eher, dass er befruchtend in beide Richtungen wirkt. Zwei Jahre ist er noch erster Bürger seiner Stadt, denn in Sachsen-Anhalt dauert die Amtszeit sieben Jahre.
Das sind zwei Jahre Doppelbelastung: "Ich bin überrascht darüber, welche Möglichkeiten, aber auch Grenzen ich als Abgeordneter habe - und vor allem darüber, welches Arbeitspensum vor mir liegt." Der Kulturexperte wünscht sich mehr private Zeit für die Kultur in Berlin, "aber die Arbeit geht vor". Das Bodemuseum, das nur wenige Minuten von seinem Abgeordnetenbüro entfernt liegt, wird seine erste Station sein, wenn das Pensum mal kleiner geworden ist.
Die Bilanz seines ersten Bundestagsjahres fällt durchwachsen aus. Der Sozialdemokrat berichtet von übertroffenen, aber auch von nach unten korrigierten Erwartungen, beispielsweise beim Kampf um die Folgeleistungen von Hartz IV für die Kommunen.
Zwei Seelen schlagen da in seiner Brust: "Ich sehe sehr wohl die Zwänge, die der Bund hat", sagt der Bundestagsabgeordnete Reichel - doch der Bürgermeister Reichel denkt zugleich an die Belastungen für den kommunalen Haushalt. "Der Bund oben hat mehr Kraft als wir ganz unten in der Kommune."
Die Tür in den Ausschuss für "Kultur und Medien" öffnete sich für den Mann vom Fach nicht, obwohl er dies angestrebt hatte. Nun kümmert er sich im Innenausschuss unter anderem um kommunale Themen: etwa um Polizei, Katastrophenschutz und Feuerwehr. Daneben beschäftigt ihn als sein "ganz großes Thema" die Änderung des Stasi-Unterlagengesetzes. Mit der Arbeit daran hat Reichel sein "richtiges Betätigungsfeld" gefunden, auch wenn er sich dabei gelegentlich wie in einer Mühle fühlt. Das große Drängen und die Beschwerden der Opferverbände, die er in vielen Punkten teilt, machten ihm durchaus zu schaffen. Trotzdem hofft Reichel, dass er an einer Lösung mitgewirkt hat, die lange Zeit tragen wird, auch wenn sie nicht für alle Seiten befriedigend ist. Reichel geht offen auf andere Menschen zu. Diese Fähigkeit ist für ihn Voraussetzung für gute und erfolgreiche politische Arbeit: "Ich versuche auch, für den anderen immer Verständnis aufzubringen. Das klappt nicht immer - doch das hilft wiederum, bei den wichtigen Entscheidungen nicht allzu zögerlich zu sein."
Wichtige, auch schwierige Entscheidungen waren für ihn beispielsweise die Abstimmungen zum Einsatz der Bundeswehr im Libanon und im Kongo, bei denen er mit Nein gestimmt hat, und die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes, der er zugestimmt hat. Auf den ersten Blick ein Widerspruch - doch Reichel hielte es für schlimmer, Afghanistan zu verlassen und es damit dort den Menschen zu erschweren, ihren Weg einigermaßen demokratisch und selbstbestimmt weiterzugehen. "Für mich sind solche Entscheidungen trotzdem immer eine Gratwanderung."
So sehr er mit Leib und Seele Bürgermeister ist, empfindet Reichel es schon als "einen Kick mehr", als Bundestagsabgeordneter zu entscheiden. Dennoch gebe es nichts Schöneres als hauptberuflich Bürgermeister zu sein: "Da erleben Sie alles."
Die fünf Jahre als kommunaler Chef kommen ihm vor wie zehn; das könne man auch an seinen ersten grauen Haaren ablesen. Heute nicht nur Kommunalpolitiker, sondern einer von 614 Bundesparlamentariern zu sein, flößt ihm auch nach einem Jahr noch Respekt ein.
Zum Schluss räumt Maik Reichel noch eine Schwäche ein: "Ich kann so schlecht Nein sagen." Dieses Manko aber erwies sich im Sommer des vergangenen Jahres als einmalige Chance. Maik Reichel hat sie genutzt.