Befand sich Deutschland während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in einem patriotischen Ausnahmezustand, oder ist die Euphorie des vergangenen Sommers nur als massenhafte Demonstration einer bis dahin nicht wahrgenommenen Normalität zu werten? Oder fand nur ein karnevalistischer Event in einem Land statt, das einen heißen Sommer zu verkraften hatte? Beinahe alle Fahnen sind verschwunden; der Alltag scheint die Deutschen wieder fest im Griff zu haben. Das Neue an der patriotischen Gefühlswallung des Sommers war, dass sie alle Bevölkerungsschichten erfasst hatte. Es war ein Patriotismus ohne ideologische Scheuklappen - spielerisch, ja leichtfüßig, nicht gedankenschwer oder verkopft.
Die alte Bundesrepublik war wohl das einzige Land der Welt, zu dem selbst die eigenen Bürger ein gespaltenes Verhältnis hatten. Nationale Symbolik oder Rhetorik galten zu Recht als verpönt. Im Lichte der jüngeren deutschen Vergangenheit war das mehr als nachvollziehbar. Die Frage der Identität war solange offen, wie die Berliner Mauer geschlossen war. Erst mit der Wiedervereinigung konnte eine andere Sichtweise auf die Nation gewagt werden.
Bemerkenswert ist, dass die intellektuellen Protagonisten des neuen Patriotismus eher vom linken als vom konservativen Spektrum der Gesellschaft kommen. Als ein Ergebnis dieses historischen Prozesses kann man Bundesinnenminister Wolfgang Schäubles Resümee bei der Vorstellung der WM-Bilanz anführen: Die Deutschen hätten gelernt, dass sie gar nicht so seien, wie sie selbst immer geglaubt hätten. Der Patriotismus 2006 war eine Äußerungsform dieses Selbstfindungsprozess. Ob er nachhaltig sein wird, wird die Zukunft zeigen.