Dilemma 1: Nehmen wir an, Sie sind Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Und Sie sitzen in einem Ausschuss mit MdB K., einer schrecklichen Nervensäge. K. verzögert jeden Beschluss durch seine besserwisserischen Einwände und seine selbstgefälligen Monologe. Seine Bemerkungen in den Sitzungen sind oft so hahnebüchen, dass Sie vermuten müssen, dass K. die Ausschuss-Arbeit mit einem politischen Auftrag manipuliert.
Eines Tages flutet ein Gerücht durch die Gänge des Parlaments: Im Internet sei ein pikantes Video des verheirateten Abgeordneten K. mit seiner Sekretärin aufgetaucht. Sie spielen mit dem Gedanken, Boulevard-Journalist P. zu informieren. Die Vorstellung, Ausschuss-Sitzungen künftig ohne - oder wenigstens mit einem viel kleinlauteren -Kollegen K. halten zu können, ist reizvoll. Was man ohne dessen Blockade noch alles erreichen könnte in dieser Legislaturperiode! Zum Wohle des ganzen Landes! Rufen Sie den Journalisten P. an?
Menschen werden ohne Gefühl für Recht und Unrecht in die Welt gesetzt. Deshalb sind wir die ersten 28 Jahre unseres Lebens damit beschäftigt, Erfahrungen zu machen und Erkenntnisse zu sammeln, aus denen wir uns ein eigenes moralisches Grundgerüst bauen können. In dieser Zeit bilden wir uns aus - und bilden uns Meinungen zu fast allen umstrittenen Themen unserer Gesellschaft: zu Abtreibungen, Kapitalismus, Fremdgehen, der Kirche, der Gefährlichkeit von Computerspielen, dem Charakter von Eckart von Klaeden, Sterbehilfe, und so weiter. Moralisch werten können wir die einzelnen Punkte noch nicht - wir müssen sie ja erst einmal durchdenken und verstehen. Das ist die erste Phase.
Im Normalfall ergreifen wir dann einen Beruf und gründen irgendwann eine Familie. Bald darauf beginnt die zweite Phase. Von jetzt an spüren wir deutlich jede Menge äußerer Einflüsse, die uns moralisch verderben: das Geld natürlich. Aber auch unser Job mit all seinen Zwängen, oder die Falle einer unangebracht großzügigen Gefälligkeit eines Geschäftspartners (Kurz zögern wir, dann nehmen wir an), oder der zweifelhafte Artikel in einem Karriere-Magazin, in dem von uns mehr "Entschlossenheit" und "Machtbewusstsein" gefordert wird (Wir reißen den Text aus und legten ihn zu unseren Unterlagen).
Zu diesen negativen äußeren Einflüssen kommen jede Menge innerer Regungen hinzu, die uns zu schlechteren Menschen machen: Neid auf den Kollegen, Eifersucht auf die Freundin, Maßlosigkeit bei Gehaltsverhandlungen oder beim Abendessen. Eigentlich bleibt uns gar keine Chance, ein aufrechtes Leben zu leben: Die Verführungen sind zu vielfältig, und sie kommen aus allen möglichen Richtungen.
Zum Glück gibt es zwischen Phase 1 und Phase 2 diese kurze Zeitspanne moralischer Integrität. Ich nenne sie die "Zeit der Klarheit". In dieser kurzen "Zeit der Klarheit" steht unser moralisches Gerüst schon bombenfest. Gleichzeitig wirken moralzersetzende innere und äußere Einflüsse noch nicht so lange auf uns, als dass sie uns völlig im Griff hätten: Die Wirklichkeit hat unseren jugendlichen Idealismus noch nicht zerstört. Wir haben noch keine Kinder, mit deren Wohlergehen wir die Schleimerei bei unserem Chef rechtfertigen könnten. Im besten Fall sind da auch noch Freunde aus Kindertagen, die uns offen auf plötzliche Charakterveränderungen hinweisen.
Woher ich das weiß? Ich bin 32 Jahre alt. Ich erlebe die letzten Augenblicke meiner "Zeit der Klarheit". Ich spüre, dass der Zahn der Zeit an meinem moralischen Grundgerüst nagt, wie eine riesige Ratte an den tragenden Säulen eines prächtigen Stehlenbaus. Mein Zerfall ist schon so weit fortgeschritten, dass ich selbst biblische Todsünden rechtfertigen kann. Sind Neid und Habsucht nicht akzeptable Antriebsmotoren unseres gesellschaftlichen Systems (Wo stünde der Aktienkurs der Deutschen Bank mit einem weniger maßlosen Josef Ackermann?)? Kann man ohne Eitelkeit überhaupt noch eine Rolle spielen in unserer Medienwelt (Warum gibt es eigentlich keine unattraktiven Nachrichtensprecher?)?
Dilemma 2: In der Stellen-Annonce wird gefordert: "Englisch und Französisch in Wort und Schrift". Nun, dieser Job ist wie für Sie gemacht, finanziell würde er Sie voranbringen, außerdem ist es ein Posten mit Perspektive. Englisch ist für Sie natürlich auch kein Problem. Beim Französischen allerdings... Gut, vier Jahre Schul-Französisch, natürlich, aber das ist auch schon wieder 24 Jahre her... Während Sie gerade letzte Hand an Ihre schriftliche Bewerbung legen, kommt Ihnen der Einfall, den zweiwöchigen Camping-Urlaub nahe Arcachon im vergangenen Sommer zu einem halbjährigen Französisch-Sprachkurs in ihrem Lebenslauf auszuschmücken. Keine schlechte Idee! Und wer soll das bitte nachprüfen? Und? Machen Sie's?
Das Schöne daran, moralische Grundsätze aufzugeben: Es macht das Leben viel angenehmer. Endlich nicht mehr in der Kälte rumstehen und in der Hosentasche mühsam nach Kleingeld für den Obdachlosen am Boden fummeln. Endlich mal das vielversprechende Aktienpaket dieses Waffenherstellers genauer betrachten, statt sich über die Kinkerlitzchen-Erträge von Ökostrom-Lieferanten zu ärgern. Endlich FC-Bayern-Fan werden statt sich weiter mit dem Schicksal eines hoffnungslosen Zweitligisten zu beschäftigen, für den man sein Leben lang ein Faible hatte. Endlich mal nach Aussehen einstellen. Endlich mal Mülltrennung vergessen. Endlich diese Kinder-Patenschaft in Haiti kündigen, um Geld zu sparen für einen Parkplatz vor dem Haus. Endlich BILD lesen und sonst nichts. Endlich weniger denken müssen. Eine Erkenntnis: Moralisch zu verderben ist meist kein Zeichen von Schlechtigkeit, sondern von Faulheit. Die meisten Menschen wollen sich einfach nicht mehr die Mühe machen, über ihre Handlungen nachzudenken.
Dilemma 3: Dieser junge Typ aus der Poststelle macht Ihnen schon lange schöne Augen. Natürlich haben Sie ihn bislang völlig ignoriert (auch wenn's schwer fiel). Aber jetzt … in Ihren Händen drehen Sie das Papier, dass er Ihnen vorhin in der Kantine zugesteckt hat: "Auf ein Glas Wein bei mir? Warum denn nicht? Ich kann schweigen." Ja, warum denn eigentlich nicht? Mit Ihrem Ehemann haben Sie eh nicht mehr viel zu schaffen, außer Terminkalender miteinander zu vergleichen und sich darüber zu streiten, wer zum Elternabend gehen muss. Sie haben schließlich auch Bedürfnisse! "Warum denn nicht?" Und außerdem haben Sie schon lange den Verdacht, dass Ihr Mann bei seinen vielen Dienstreisen auch nicht immer alleine im Bett liegt. Also... "warum denn nicht?" Verabreden Sie sich mit dem jungen Typen aus der Poststelle?
Noch eine Erkenntnis: Natürlich machen auch Menschen unter 28 unmoralische Dinge. Meist aus Neugier. Manchmal aus Dummheit. Gelegentlich folgen sie auch einfach angeblichen Vorbildern: Da sind prächtig abgefundene Vorstandsvorsitzende, lustreisende Betriebsräte, dopende Spitzensportler... Es entsteht leicht der Eindruck, dass man die moralische Latte dieser Tage ziemlich tief hängen muss, wenn man im Leben vorankommen will. Und erst die überraschende Feststellung, dass man tatsächlich mit fast jeder unmoralischen Tat durchkommt - oft sogar Beifall dafür erhält, auf Kosten eines Dritten einen Vorteil erlangt zu haben - lässt Menschen zu vorsätzlichen Wiederholungstätern werden. Ist da noch ein Unterschied zwischen den Fragen "Was sollen wir tun" und "Was dürfen wir"?
Dilemma 4: Sie wollen ein altes Auto bei Ebay verkaufen - und haben Ihrer Tochter ein großzügiges Geschenk versprochen: Der Erlös aus dem Verkauf soll ihrem Konto gutgeschrieben werden, Ihre Tochter braucht das Geld dringend für ihr Studium. Die Versteigerung läuft überraschend gut - aber als Sie Ihrer Frau davon erzählen, erwähnt diese einen Schaden an der Ölpumpe, den Sie schon ganz vergessen und auf den Sie im Verkaufstext auch nicht hingewiesen hatten. Das defekte Teil mindert den Wert des Fahrzeuges zwar erheblich, würde aber beim Kauf nicht entdeckt werden, sondern erst nach einigen hundert Kilometern Fahrt. Sie könnten den Käufer natürlich auf die Ölpumpe hinweisen und einen geringeren Verkaufspreis aushandeln. Aber das würde das Geschenk für Ihre Tochter kleiner ausfallen lassen. Verschweigen Sie den Fehler des Fahrzeugs?
Kürzlich hatte ich einen Traum. Alle Menschen konnten fliegen, aber niemand durfte höher fliegen als ich. Und ich fand Spaß daran so tief zu fliegen, dass alle andern mit ihren Nasen den Matsch am Boden durchpflügen mussten, wenn sie auch fliegen wollten. Ich bin grinsend aus diesem Traum erwacht. Es ist nicht mehr viel Zeit für mich, bald bin ich für die rechtschaffende Welt verloren. Da ist nichts mehr zu retten. Und Sie? Wie steht es um Sie? Gibt es für Sie noch Hoffnung?
Der Autor ist Chefredakteur des Magazins "Neon" und lebt in München. Vom "medium magazin" wurde ihm gerade erst der Titel "Journalist des Jahres" verliehen.