Dieser Glaube an die baldige Befreiung lässt mich eben schreiben." Mit diesen Worten begründet Frederick Weinstein, wieso er im Juni 1944 anfängt, seine Erlebnisse der letzten Jahre niederzuschreiben. Er beginnt die Niederschrift in einem Kellerversteck in Warschau, in dem er nach seiner Flucht aus dem Warschauer Ghetto im Februar 1944 Zuflucht gefunden hat. Es entsteht ein eindrucksvoller, detaillierter und emotionaler Bericht, der Not und Leid einer Einzelperson aufzeigt und gleichzeitig so viel Gemeinsames hat mit den vielen Schicksalen der Menschen von denen keine Überlieferungen existieren. Mehr als 60 Jahre nach Weinsteins Entschluss, die Ereignisse festzuhalten, wird mit dem vorliegenden Buch ein einzigartiges Zeitdokument der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Frederick Weinstein wird 1922 in einer gebildeten, assimilierten jüdischen Arztfamilie geboren. 1939, zum Zeitpunkt der Besetzung Polens durch die Deutschen, hat Weinstein die dritte von vier Klassen einer Fachoberschule für Mechanik beendet und strebt nach Beendigung der Schule einen akademischen Beruf im technischen Bereich an. Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Die gesamte Familie Weinstein muss vor der deutschen Armee zunächst von Lodz nach Warschau fliehen, um schließlich, nach Stationen in zwei im Umkreis von Warschau liegenden Dörfern, im Juni 1942 wieder nach Warschau zu kommen - diesmal in das in der Zwischenzeit entstandene Ghetto. Die Szenen dieser Flucht mit Bombardierungen der Flüchtlings-Trecks, die ganze Straßenzüge innerhalb von wenigen Minuten in ein Inferno verwandeln, sowie die Beschreibungen der alltäglichen Überlebenskampfes im Warschauer Ghetto sind von beklemmender Eindringlichkeit.
Frederick Weinsteins Aufzeichnungen, die sachlich und nicht literarisch beschreiben, bestehen aus zwei Teilen: Einem erzählenden Teil, der von Herbst 1939 bis Juni 1942 reicht und sich durch die Ansprache zukünftiger Leser als eine Mitteilung an die Außenwelt verstehen lässt und einem Teil mit Notizen und Tagebucheinträgen, der im Juni 1942 anschließt und mit seinem letzten Eintrag vom 2. August 1944 endet. Dieser zweite kürzere Teil ist nicht komplett ausformuliert und enthält knappe stichwortartige Anmerkungen zu Ereignissen, die auf eine später geplante Ausformulierung schließen lassen. Durch den telegrammähnlichen Stil erhalten diese Einträge eine sehr authentische Wirkung.
Innerhalb der Erinnerungsliteratur nehmen die Aufzeichnungen von Frederick Weinstein also nicht nur durch den explizit adressierten Leser eine Sonderstellung ein, sondern auch durch ihre Zeitnähe im Gegensatz zu vielen anderen Aufzeichnungen, die lange nach 1945 notiert wurden. Zu vielen politischen und militärischen Begebenheiten konnte Weinstein den Hintergrund in seinem Versteck nicht wissen - weshalb ein umfangreicher Anmerkungsteil die Edition ergänzt -, er ahnte aber in vielen Fällen das Unheil voraus. Ein weiterer Unterschied zu vielen Erinnerungswerken ist, dass Weinstein als Überlebender des Nationalsozialismus an der Edition seiner Aufzeichnungen mitwirken konnte.
"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten." Unter diesem Zitat sind die Tagebücher Victor Klemperers erschienen, ein Titel, der auch über Frederick Weinsteins Erinnerungen stehen könnte. Erinnerungen eines jungen Mannes, denen viele Leser zu wünschen sind.
Frederick Weinstein: Aufzeichnungen aus dem Versteck. Erlebnisse eines polnischen Juden 1939 - 1946. Herausgegeben und mit einem Kommentar versehen von Barbara Schieb und Martina Voigt. Aus dem Polnischen von Jolanta Wozniak-Kreutzer. Lukas Verlag, Berlin 2006; 578 S., 29,80 Euro.