Im Caféhaus ist es voll und laut, Kellner balancieren geschäftig Tabletts mit Milchkaffee und Kuchen durch die schmalen Gänge, Kinder spielen, Gäste suchen nach freien Tischen. In der hintersten Ecke sitzt eine junge Frau, allein. Mit gesenktem Kopf kritzelt sie etwas auf ein Stück Papier. "Ich nutze jede freie Minute, um zu schreiben, auch wenn ich unterwegs bin", sagt Louise Jacobs ein wenig entschuldigend und schiebt schnell Kugelschreiber und Papier zur Seite. Unterwegs ist sie oft, seit ihr Buch im Herbst vergangenen Jahres erschienen ist. Lesungen, Interviews, Auftritte in Fernsehtalkshows - Louise ist seit Wochen auf Tour, kreuz und quer durch Deutschland, um ihr Buch vorzustellen. Mit Erfolg: "Café Heimat" verkauft sich gut. So gut, dass die Geschichte der Familie Jacobs mittlerweile in die achte Auflage geht. Gerade ist sie auf den zweiten Platz der Sachbuch-Bestsellerliste des "Spiegels" geklettert.
"Das ist unglaublich! Gerechnet hätte ich damit nicht", sagt Louise mit einem Lächeln. Sie ist schmal und trägt die braunen Haare kurz und akkurat geschnitten. Genau mit diesen Haaren und einer harmlosen Frage nach ihrer dunklen Farbe hatte alles vor etwas mehr als zwei Jahren begonnen: "Sag mal, hast du eigentlich spanische Vorfahren?", wollte ihr Freund damals wissen. "Er war der Erste, der mich so knallhart fragte, woher ich eigentlich komme", erinnert sich Louise. Sie war überrascht - und schockiert, weil sie ihm nicht richtig antworten konnte. Alles, was sie über ihre Vorfahren wusste war, dass die Jacobs ein norddeutsches Bauerngeschlecht waren, aus der Umgebung von Bremen. Mehr war ihr nicht bekannt, vor allem nicht über die Familie ihrer Mutter "Ich habe keine Ahnung gehabt, warum sie in Nicaragua geboren wurde und warum meine Großtante in den USA wohnt", sagt Louise.
Sie selbst wurde in der Schweiz geboren, wuchs mit fünf Geschwistern in einem Dorf bei Zürich auf. Behütet, naturverbunden, mit einem starken Zusammenhalt in der Familie. Doch Luise fühlte, dass etwas nicht stimmte: "Es gab eigentlich nur uns, keine Familie darüber hinaus." Der Kontakt zu ihrem Opa, dem Firmenpatriarchen Walther, war kaum vorhanden. "Zum Geburtstag schickte er immer einen Brief", erinnert sich Louise. Doch zu Besuch kam er äußerst selten. Auch Ann - die Großmutter mütterlicherseits -sah Louise selten. Warum sie selbst in der Schweiz aufwuchs, während Teile der Familie in Deutschland, andere in den USA wohnten, verstand Louise lange nicht. Darüber wurde nicht geredet bei den Jacobs - wie überhaupt wenig über die Familienangelegenheiten gesprochen wurde. "Ich habe schon als Kind gespürt, dass über vieles geschwiegen wurde. Der Normalzustand war das Nichtsprechen", sagt Louise.
Die Frage des Freundes wurde für die damals 22-Jährige zur Initialzündung für eine Suche nach den eigenen Wurzeln: Zum ersten Mal begann Louise ihre Mutter nach ihren Vorfahren zu fragen, forschte in Archiven nach, flog sogar nach Rio de Janeiro und New York, um Spuren der Familie zu finden. Was sie schließlich entdeckte, verblüffte und erschreckte sie: Die Vorfahren ihrer Großmutter mütterlicherseits waren spanische Juden. Louise erfuhr so zum ersten Mal, dass ihre Großmutter Ann von den Nationalsozialisten verfolgt wurde und mit ihrer Familie 1938 über Portugal in die USA fliehen musste.
Erst da erkannte Louise das Ausmaß des Schweigens in ihrer Familie: "Meine Oma hat fast 40 Jahre aus ihrem Leben ausgeklammert", erklärt Louise. ",Es war eine schlimme Zeit', das war alles, was sie darüber gesagt hat. Sie hat auch ihrer Tochter, meiner Mutter, niemals von ihrer Jugend erzählt."
Immer wieder gibt es Schwierigkeiten zwischen den Familien väterlicher- und mütterlicherseits. Kein Wunder, konnte deren Vergangenheit doch kaum gegensätzlicher sein: Während die Jacobs die Nazizeit gut überstanden hatten und das "Jacobs Kaffee" als "arisches" und "kriegswichtiges" Unternehmen galt, flüchteten die Jessuruns aus Deutschland. Ihr Vermögen wurde von den Nazis beschlagnahmt. "Die Zusammenführung dieser Familie ist ja so unmöglich, dass es natürlich zu Spannungen kam", erzählt Louise. Damit umgegangen wurde schließlich auf sehr hanseatische Weise: Man schwieg.
Louise wollte jedoch anders mit der Vergangenheit umgehen und entschied, ein Buch zu schreiben. Eine Idee, die ihre Familie zunächst nicht unterstützte: "Als ich meinem Vater erzählte, was ich vorhabe, sagte er: ,Nein, das machst du nicht'", erzählt Louise. "Ihm war es wahrscheinlich auch unangenehm mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden", vermutet sie. Für Louise war das aber gerade ein Grund, es trotzdem zu tun.
Auch bei ihren Verwandten lief sie zunächst keine offenen Türen ein. Zwar willigten die meisten ein, über die Vergangenheit zu sprechen, trotzdem musste Louise zunächst behutsam das Eis brechen: "Von sich aus haben sie nichts erzählt", erinnert sie sich. ",Ach, was gibt es da schon zu sagen?' Das war damals ihre Haltung."
Doch schließlich begannen sie, mit Louise zu reden. Über die Geschichte der Kaffeedynastie, über Walther Jacobs, den korrekten, aber kühlen Firmenpatriarchen. Über die jüdische Familie Jessurun, die Flucht und den Neuanfang in den USA. "Eva, die Schwester meiner Großmutter, sagt inzwischen sogar: ,Wir haben noch gar nicht genug gesprochen'", erzählt Louise. Sie freut sich darüber, man kann es ihr ansehen. Ihre Oma Ann ist heute sogar so stolz auf das Buch ihrer Enkelin, dass sie bereits über 30 Exemplare gekauft und verschenkt hat.
Doch wichtig ist das Buch vor allem für Louise selbst. Sie, die sich als Jugendliche oft seltsam fremd, anders und unverstanden unter Gleichaltrigen fühlte, suchte schon früh nach etwas wie Zugehörigkeit und Wurzeln. "Heimat ist für mich da, wo man sich nicht erklären muss. Aber in der Schweiz habe ich mich immer unwohl gefühlt", sagt Louise. "Das fing schon mit dem Schweizerdeutsch an: Ich kann es natürlich sprechen, aber ich hatte immer den Eindruck, mich nicht richtig darin ausdrücken zu können." Louise wollte weg. Schnell. Sie beendete die Schule in der Schweiz mit 16 und wechselte auf eine Schule in Vermont. "In die USA bin ich damals wohl auch, weil ich nach meiner Heimat suchte. Gefunden habe ich sie dort aber nicht." Sie ging schließlich nach Berlin, wo sie heute lebt, und machte Abitur. Mit der Arbeit an ihrem Buch scheint sie nun im Leben angekommen zu sein. Mit dem Wissen über ihre jüdischen Wurzeln hat sich vieles gefügt: "Früher fühlte ich mich jüdisch, heute bin ich es", sagt Louise. Schon bevor sie etwas über ihre Vorfahren wusste, habe sie eine Nähe zum Judentum gespürt. "Ich konnte es nicht erklären", erinnert sie sich. Heute weiß Louise wieso. "Die Suche nach meinen Wurzeln war sehr wichtig. Meine Vorfahren sind Wegweiser in meinem Leben geworden."