Es ist still im Untersuchungsausschuss, als der Mann mit langem Bart leise und stockend von seinem Martyrium im US-Gefangenenlager Guantanamo und zuvor im afghanischen Kandahar erzählt. Die Befragung des in Bremen aufgewachsenen Türken Murat Kurnaz, der zwischen Anfang 2002 und August 2006 mangels Beweisen für eine Verwicklung in terroristische Aktivitäten unschuldig auf Kuba einsaß, macht alle Fraktionen betroffen. Von "erschütternden Details" spricht der Vorsitzende Siegfried Kauder (CDU). Die Behandlung von Kurnaz sei mit rechtsstaatlichen Standards nicht zu vereinbaren, sagt die CDU-Abgeordnete Kristina Köhler. Der Inhaftierte sei "Opfer einer fehlgeleiteten US-Militärjustiz" geworden, meint SPD-Obmann Thomas Oppermann. Wolfgang Nescovic von der Linkspartei: "Kurnaz ist unschuldig und war nur zur falschen Zeit am falschen Ort."
Was der 24-Jährige berichtet, hat es in sich: In Kandahar und in Guantanamo häufig geschlagen, immer wieder angekettet, nach seiner Festnahme in Pakistan in Afghanistan mit nur dünner Kleidung der Kälte ausgesetzt, auf Kuba häufig aus dem Schlaf aufgeschreckt, zeitweise eingesperrt in Drahtkäfigen, mit miserablen hygienischen Bedingungen konfrontiert, zur "Strafe" in Fesseln stundenlang auf den Boden geworfen. Was "das Schlimmste" gewesen sei, fragt Kauder: Kurnaz erwähnt kleine Isolationszellen, wo man künstlich erzeugter Hitze oder Kälte ausgesetzt worden sei, dort sei er manchmal wegen reduzierter Luftzufuhr ohnmächtig geworden, er nennt dies "Luftlosigkeit".
So bedrückend diese Schilderungen wirken: Dieses Schreckensszenario spielt nur die Hintergrundmelodie im Ausschuss. Schließlich untersucht das Gremium nicht die US-Methoden bei der Terrorbekämpfung. Die Parlamentarier prüfen vielmehr, ob hiesige Behörden und die deutsche Regierung eine Mitschuld am Schicksal von Kurnaz haben. Eines lässt sich schon zum Auftakt dieser Recherchen sagen: Dieser Fall birgt weitaus mehr politischen Sprengsstoff in sich als die Affäre um Khaled El-Masri, die das Gremium bereits bearbeitet hat. Im Zentrum steht die Frage, ob Kurnaz schon Ende 2002 hätte freikommen können: weil die USA der deutschen Seite dessen Entlassung angeboten haben sollen, die Einreise des Türken aber von Berlin abgeblockt worden sei, so der Verdacht. Von der Aufhellung eines höchst brisanten Vorwurfs bleibt die Öffentlichkeit im Übrigen vorerst ausgesperrt: Der geheim tagende Verteidigungsausschuss geht dem Vorwurf von Kurnaz nach, in Kandahar auch von Bundeswehrsoldaten misshandelt worden zu sein.
Nicht den Kern der Nachforschungen im Untersuchungsausschuss, aber doch einen neuralgischen Punkt betrifft eine bislang nicht erörterte Erwägung: War die deutsche Seite nicht nur seit dem Aufenthalt des Bremers in Guantanamo, sondern von Anfang an in dessen Kidnapping verwickelt? Bernhard Docke als dessen Anwalt äußert als Zeuge die Vermutung, dass Informationen aus der Bundesrepublik die US-Behörden erst veranlasst haben könnten, den damals 19-Jährigen von Kandahar nach Guantanamo zu schaffen. Einen Beweis habe er zwar nicht, doch gewinne man aus den Akten diesen Eindruck. Kurnaz sei schon kurz nach seiner Festnahme in Pakistan von US-Vernehmern mit Details wie Bewegungen auf seinem Konto oder einem Handyverkauf in Deutschland konfrontiert worden. Solche Angaben finden sich in Unterlagen der Bremer Staatsanwaltschaft, die seinerzeit gegen den Moslem ein später eingestelltes Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten eröffnet hatte.
Dockes Ausführungen rufen Oppermann als Verteidiger der rot-grünen Regierung auf den Plan. Der SPD-Obmann insistiert, dass der BND bereits am 9. Januar 2002 aus Afghanistan gemeldet habe, die US-Stellen wollten Kurnaz nach Guantanamo transportieren. Aber erst am 18. Januar habe das Bundeskriminalamt das FBI über das hiesige Ermittlungsverfahren unterrichtet. "In den Akten", so Oppermann, fänden sich keine Hinweise auf die Weiterleitung sonstiger Informationen. Liegt Anwalt Docke also falsch? Oder steht eben nicht alles "in den Akten"?
Zur Frage einer deutschen Mitverantwortung an der Haft des jungen Moslems auf Kuba liefert diese Sitzung noch wenig Konkretes. Doch pünktlich zu diesem Treffen berichten Medien aus internen Regierungsdokumenten: Diese Zitate legen die Vermutung nahe, dass auf höherer Regierungs- und Geheimdienstebene 2002 tatsächlich über ein Angebot von US-Seite zur Freilassung von Kurnaz beraten, dessen Rückkehr jedoch abgeblockt wurde. Der nach diesen Unterlagen beschrittene Weg: Wegen über sechsmonatiger Abwesenheit aus Deutschland entzogen Bundesinnenministerium und Bremer Ausländerbehörde dem Türken die Aufenthaltsberechtigung. Erst ein Gericht hob diese Maßnahme wieder auf.
Auch das Verhör von Kurnaz durch drei deutsche Geheimdienstler in Guantanamo im Herbst 2002 kann die Annahme begründen, dass die Regierung frühzeitig von dessen Unschuld Kenntnis hatte. Während seiner Vernehmung vor dem Ausschuss identifiziert Kurnaz auf Photos einen der Vernehmer "mit Sicherheit" und einen "mit hoher Wahrscheinlichkeit". Einer der drei Deutschen sei 2004 noch einmal bei ihm in Guantanamo erschienen.
Docke kritisiert, dass das Auswärtige Amt den heiklen Fall "nur verwaltet hat", von politischen Initiativen gegenüber den USA sei indes wenig zu spüren gewesen. Kurnaz sei türkischer Staatsbürger, habe es geheißen, da könne man wenig für ihn tun. Hingegen habe sich, so der Anwalt, nach der Bundestagswahl Kanzlerin Angela Merkel gegenüber den USA erfolgreich für den Bremer eingesetzt: "Da wurde ein Schalter umgelegt." Die Gemengelage ist noch undurchsichtig, doch die Schützengräben für den politischen Streit werden bereits ausgehoben. Kein Wunder, waren mit Frank-Walter Steinmeier (SPD), Joschka Fischer (Grüne), Otto Schily (SPD) sowie den Geheimdienstspitzen um Ernst Uhrlau, August Hanning und Heinz Fromm Verantwortungsträger zuständig, die teils noch heute in Amt und Würden sind.
Laut Kauder deuten "gewisse Indizien" auf eine Offerte Washingtons zur Freilassung von Kurnaz hin. Oppermann hingegen zieht diese Verteidigungslinie: Ein offizielles Angebot habe das Pentagon nicht unterbreitet, lediglich auf Geheimdienstebene sei eine Entlassung von Kurnaz zwecks Einsatz als V-Mann in der hiesigen islamistischen Szene erörtert worden. Kurnaz war in der Hoffnung auf Freiheit nach seinen Angaben gegenüber deutschen Vernehmern zum Schein auf dieses Angebot eingegangen. Kristina Köhler argumentiert feinsinnig: Es existierten keine Beweise, dass die frühere Regierung nicht das Nötige für Kurnaz getan habe, aber unter Merkel habe es ein entschiedenes Engagement gegeben. Nescovic meint, Außenminister Steinmeier als damaligem Kanzleramtschef drohe es nun an den Kragen zu gehen. Hans-Christian Ströbele (Grüne) schiebt den schwarzen Peter der SPD zu: Fischer habe sich als Außenminister für Kurnaz eingesetzt, doch Kanzleramt und Innenressort hätten diese Bemühungen "konterkariert". Das Fazit Max Stadlers (FDP) zum Fall Kurnaz: Es vermittle sich ein "erschütterndes Gesamtbild".