Das Parlament: Herr Kertész, Sie werden im Bundestag die Gedenkrede zum Jahrestag der Auschwitz-Befreiung halten. Warum haben Sie, der doch eher ein Unbehagen daran hat, eine "verlorene Geschichte zu beweinen" - so schreiben Sie es in Ihrem neuen Buch "Dossier K." - zugesagt?
Imre Kertész: Ich bin Schriftsteller. Und deshalb habe ich zugesagt unter der Bedingung, dass ich keine Rede halte - vom Holocaust war schon genug die Rede -, sondern aus einem Roman vorlese. Das wird viel schöner und lebendiger sein als eine der üblichen Gedenkreden.
Das Parlament: Hat auch der Ort des Gedenkens - das deutsche Parlament - und die Tatsache, dass es bald keine authentischen Zeitzeugen, also auch keine Überlebenden von Auschwitz mehr geben wird, Ihre sonstige Zurückhaltung gegenüber einer Gedenkkultur überlagert?
Imre Kertész: Ach, ich habe nichts gegen eine Gedenkkultur, wenn sie lebendig ist und die Menschen wirklich anspricht. Leider gibt es inzwischen einen Holocaust-Konformismus; viele Gedenkreden sind hohl geworden und wirken wie leblose Drucksachen.
Das Parlament: Was bleibt den nachkommenden Generationen, wenn es keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt? Verlieren dann Auschwitz, Buchenwald und die anderen Schreckensorte ihre furchtbare Singularität, werden sie zu toten Geschichtsorten und -daten?
Imre Kertész: Das hängt weniger von uns Alten, sondern von den nachfolgenden Generationen ab. Viele jüngere Künstler haben das Thema ja bereits wieder aufgenommen und belebt. Einige möchten auch gerne den berühmten Schlussstrich ziehen. Aber wir können es nicht. Weil die Katharsis ausgeblieben ist.
Das Parlament: Wie hätte diese Katharsis, also die sittliche Läuterung, aussehen müssen?
Imre Kertész: Ich kann da keine Rezepte geben.
Das Parlament: "Erst im Gedächtnis formt sich die Wirklichkeit", sagt Marcel Proust. Stimmen Sie dem zu?
Imre Kertész: Ja, absolut. Aber ich bin nicht Marcel Proust.
Das Parlament: Richtig. Sie sagen auch etwas anderes: Die Fiktion ist Wirklichkeit. War Auschwitz eine Fiktion? Oder kann Auschwitz nur als Fiktion ertragen werden?
Imre Kertész: Leider war Auschwitz keine Fiktion. Aber auf Ihre letzte Frage antworte ich mit ja. Auschwitz kann man sich nicht vorstellen. Das ist eine so demütigende, unmenschliche Lebensform, dass man selbst als jemand, der das erlebt hat, staunt, wie man das ertragen konnte. Die physischen Schmerzen und Veränderungen vergehen; was aber bleibt, sind die Erinnerungen, die Brüche, die Erlebnisse, die sich zu einer Fiktion vermischen. Woraus ein Kunstwerk entstehen kann. Zu einem Kunstwerk aber kann man Auschwitz nicht machen, denn Auschwitz war kein Kunstwerk. Auschwitz war Wirklichkeit.
Das Parlament: Wenn Sie Fiktion, Wirklichkeit und Wahrheit literarisch vermengen - haben Sie dann nicht Sorge, den Rechtsextremen hierzulande in die Hände zu spielen, die Auschwitz nur zu gerne zur Fiktion, zur Lüge erklären?
Imre Kertész: Ich mache meine Arbeit; was Rechtsextreme machen, ist ihre Sache. Der Rechtsextremismus kann alles ausnutzen, was andere schreiben oder formulieren. Würde ich mich an diesen Leuten orientieren, wäre ich ein Pfuscher, würde Pfuscharbeit abliefern.
Das Parlament: Herr Kertész, als was empfinden Sie sich selbst: Als Moralist, als Zyniker, als Mahner?
Imre Kertész: Als Überlebender...
Das Interview führte Sönke Petersen