Zwei frisch gebackene Präsidenten standen sich am 17. Januar im Straßburger Europaparlament auf dem roten Teppich gegenüber: Hans-Gert Pöttering (EVP), der am Vortag zum neuen Präsidenten des Europaparlaments gewählt worden war, und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie leitet seit dem 1. Januar für sechs Monate die Amtsgeschäfte der EU. Bei der herzlichen Begrüßung war beiden anzumerken, dass sie sich lange kennen und derselben "politischen Familie" zugehörig fühlen. Auch später im Plenum ging es zu wie beim Familientreffen. Der neue Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion, Joseph Daul, freute sich über die große Zahl konservativer Amtsträger im Saal - schließlich war auch Kommissionspräsident Manuel Barroso zum Start der deutschen Ratspräsidentschaft gekommen.
"Ihre Persönlichkeit symbolisiert den Wandel auf unserem europäischen Kontinent!", deklamierte Pöttering. "Sie sind die erste Präsidentin des Europäischen Rates aus dem früheren unfreien Teil Europas!" Merkel schien dieser Ehrentitel leicht unbehaglich, doch sie griff den Faden dann selber auf: "In der Europäischen Union bin ich noch eine Jugendliche. Erst vor 17 Jahren nach der Überwindung des Sozialismus bin ich in die Union aufgenommen worden ..."
Ihre Redenschreiber hatten in das mit Spannung erwartete Antritts-Statement, von dem sich Kaffeesatzleser Hinweise auf die "Berliner Erklärung" am 25. März erhofften, den Begriff "Toleranz" hervorgehoben. "Europas Seele ist die Toleranz, Europa ist der Kontinent der Toleranz. Um das zu lernen, haben wir Jahrhunderte gebraucht." Freiheit sei die Voraussetzung für Europas Vielfalt - sei es nun Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit oder die Freiheit des Unternehmertums.
Der lange Beifall, so Pöttering später, belege ja wohl, dass es eine große Rede gewesen sei. Parteifreund Barroso schloss sich in zuvor einstudierten deutschen Sätzen den Freundlichkeiten an. Die Vorsitzenden der anderen Parteien allerdings beurteilten Merkels Worte kritischer. Eine Rede über die Freiheit sei ja gut und schön, meinte Sozialistenchef Martin Schulz. "Aber Freiheit von Angst und sozialer Bedrohung ist die Grundvoraussetzung, um die anderen Freiheiten zu verwirklichen!" rief er Angela Merkel zu. "Sonst wird dieses Europa keine Grundlage und keine Akzeptanz bei den Menschen haben!" Für Gesetzesvorschläge aus Brüssel müsse es künftig eine soziale Folgenabschätzung geben, sonst werde sich das Debakel der Bolkestein-Richtlinie, besser bekannt als Dienstleis-tungsrichtlinie, bald wiederholen.
Graham Watson, dem Vorsitzenden der Liberalen (ALDE), war Merkels Rede dagegen viel zu links. "Ich bin enttäuscht, dass das Wort sozial doppelt so oft vorkam wie das Wort wettbewerbsfähig", zählte er der verblüfften Kanzlerin vor. Und die "netten Worte über Toleranz" seien wenig wert, wenn offenbar weder das Anliegen für besseren Datenschutz noch Hilfe für die in Europa strandenden Flüchtlinge eine Rolle spiele.
Daniel Cohn-Bendit (Die Grünen) stellte der Kanzlerin die Frage, wie sie mit ihrer "Sherpa-Politik" den Verfassungsprozess wieder ankurbeln wolle. Schließlich hätten die Regierungen die Verfassung schon einmal ruiniert, davon brauche man keine Neuauflage. Zuvor hatte die Bundeskanzlerin ein klares Ziel vorgegeben: "Ich setze mich dafür ein, dass bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft ein Fahrplan für den weiteren Prozess des Verfassungsvertrages steht. Bis zum Frühjahr 2009 sollten wir das Projekt zu einem guten Ende bringen." Der SPD-Abgeordnete Jo Leinen lobte die klare Aussage. "Dies ist ein ambitionierter, aber nicht unmöglicher Zeitplan." Positiv sei auch, dass Merkel einige Änderungen am Text für unumgänglich halte. "Wir brauchen eine schlankere Verfassung, die sich aber eng am bisherigen Text orientiert und ihn in der Substanz erhält." Eine Verfassung von knapp hundert Artikeln, so Leinen, wäre möglich, wenn nur die Artikel mit tatsächlichem Verfassungsrang aufgenommen würden.