SPANNUNGSVERHÄLTNIS
Der Abgeordnete zwischen freiem Mandat und Fraktionsdisziplin
Olaf Scholz ist nicht James Bond. Er ist, wie er sagt, "einer von 80 Millionen" und hat genau wie diese nur ein Mitspracherecht und keinen alleinigen Anspruch auf die Wahrheit. Fraktionsdiziplin ist deshalb für den Sozialdemokraten nichts anderes, "als die Verabredung, gemeinsam mehr Erfolg zu haben". Einen Fraktionszwang gebe nicht, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion in einer Diskussion der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen im Reichstag.
Karl Lauterbach, Wolfgang Wodarg, Christian Kleiminger, Jella Teuchner und Hilde Mattheis haben das etwas anders erfahren. Sie wollten wie James Bond die Welt retten, die deutsche Gesundheitswelt zumindest, und haben zusammen mit 60 weiteren Abgeordneten der Koalition deshalb die Zustimmung zur Gesundheitsreform im Februar dieses Jahres verweigert - trotz vehemmenter Überzeugungsversuche der Fraktionsführer, nicht gegen das Gesetz zu stimmen. SPD-Fraktionschef Peter Struck hatte im Voraus sogar Sanktionen angedroht und wollte einen möglichen Ausschluss der Abweichler aus dem Gesundheitsausschuss prüfen lassen.
Die Abgeordneten der Koalition, die gegen die Reform gestimmt haben, hatten sich entschieden, das, was die Fraktion als Erfolg definierte - die Verabschiedung der Gesundheitsreform -, nicht mitztutragen. Sie konnten es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, für eine umfassende Reform zu stimmen, die nicht ihren fachlichen Ansprüchen genügt oder sogar diesen entgegen steht.
Das ist ihr Recht, wenn nicht gar ihre Pflicht. In Artikel 38 des Grundgesetzes heißt es: Die Abgeordneten "sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Diese Freiheit jedoch zur einzig gültigen Orientierung für den einzelnen Abgeordneten zu stilisieren, wie es so genannte Abweichler gerne tun, greift nach Meinung des Staatsrechtlers Josef Isensee und der fünf Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagfraktionen, Norbert Röttgen (CDU/CSU), Olaf Scholz (SPD), Jörg van Essen (FDP), Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) und Dagmar Enkelmann (Die Linke) viel zu kurz.
Denn, so Jurist Isensee: "Parteien bilden den Gemeinwillen, nicht einzelne Abgeordnete." Diese besondere Stellung ist ebenfalls im Grundgesetz festgeschrieben. Artikel 21: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." Für Isensee konstruieren die beiden grundgesetzlichen Vorschriften nicht - wie fälschlicherweise landläufig so häufig angenommen - einen Widerspruch. Es sei ein historisches Missverständnis, dass das freie Mandat inkompatibel sei mit der Doktrin des Parteienstaats, sagte Isensee, langjähriger Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. "Die Macht der Fraktion geht hervor aus der Freiheit des Mandats ihrer Mitglieder, sie findet in ihr aber auch ihre rechtlichen und politischen Grenzen", fasste Isensee das aus der Verfassung hervorgehende Spannungsfeld zusammen. Dieses Spannungsverhältnis - auf der einen Seite die Freiheit des Einzelnen, auf der anderen Seite das Wissen, nur gemeinsam politisch erfolgreich zu sein - konstituiert für Norbert Röttgen erst das parlamentarische, pluralistische System. "Wenn es nur das Eine oder das Andere gäbe, hätten wir keine parlamentarische Demokratie", sagte der studierte Jurist, der als parlamentarischer Geschäftsführer in der Unionsfraktion einer derer ist, die für ein möglichst geschlossenes Abstimmungsverhalten verantwortlich sind. Der Umgang mit diesem Kräftefeld ist für Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, eine Frage der politischen Kultur. Die Deutschen pflegen, nach Beck, einen äußerst unsouveränen Umgang mit diesem Spannungsverhältnis. "Es ist hier eine Katastrophe, wenn nicht alle mitstimmen oder gar eine Abstimmung verloren geht." Dementsprechend viel Wert werde fraktionsintern auf einheitliche Abstimmung gelegt. In Italien beispielweise sei man in dieser Beziehung wesentlich legerer - eine verlorene Abstimmung sei dort kein Weltuntergang. In Deutschland rede man in solchen Fällen viel zu schnell von einer Regierungskrise. "Ein bisschen mehr Gelassenheit würde der politischen Kultur in Deutschland nicht schlecht tun", rät der Grüne. Für Olaf Scholz ergibt sich aus dem grundgesetzlichen Spannungsverhältnis "eine gute demokratische Einheit", wenn alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft aus Einsicht handeln und sich stets für das Ganze mitverantwortlich fühlen.
Dagmar Enkelmann sieht das nicht ganz so sportlich: "Das Problem entsteht, wenn das, was eine Fraktion tut, zu weit vom Wahlprogramm entfernt ist." Und das sei heute häufig der Fall. Daraus entstehe die Vertrauenskrise, unter der das politische System von heute so leide. Beispiel Mehrwertsteuererhöhung: Im Wahlprogramm der Union sei eine Erhöhung um zwei Prozent vorgesehen, im Wahlprogramm der SPD überhaupt keine. Am Ende ist - wie alle wissen - eine Erhöhung um drei Prozentpunkte herausgekommen. Auch für Jörg van Essen ist die Große Koalition mitschuldig an der bestehenden Legitimationskrise. Je größer die Fraktion oder Koalition, desto geringer sei die Einflussmöglichkeit des einzelnen Abgeordneten, kritisiert der Liberale. Das merkten auch die Wähler.
Lauterbach und Co nutzten diese geringe Einflussmöglichkeit bei der Gesundheitsreform. Doch sie mussten, wie James Bond, hart dafür kämpfen - obwohl es ja eigentlich, frei nach Olaf Scholz, keinen Fraktionszwang gibt.